berliner szenen: Wie soll man das erklären?
Ich saß in der U-Bahn, das Gesicht in den Händen vergraben, und heulte. Die Jungs hatten sich in die entlegensten Ecken des Wagens verzogen. Als das dritte Taschentuch voll war, hörte ich eine Frauenstimme: „Was haben Sie denn?“ – „Nichts“, schluchzte ich. „Ich bin in eine Filmvorstellung nicht reingekommen.“ Ich war mir sicher, dass die Wahrheit die Nachbarin erschlägt. Kein Mensch in meinem Alter würde sich wegen einer solchen Bagatelle so aufregen. Ich wollte nur in Ruhe gelassen werden. „Oh, das kann ich sehr gut verstehen, das ist sehr ärgerlich!“ Da ich keine Reaktion zeigte, hakte sie fast zärtlich nach: „Was war denn das für ein Film?“ Ich zuckte nach einem frischen Taschentuch.
Gott, was hätte ich ihr denn erzählen sollen? Dass ich ewig nicht mehr bei der Berlinale war? Dass ich Berge versetzt habe, um an die Karten zu kommen? Einen Arzttermin und eine Geigenprobe absagen musste? Dass ich mich wie eine Königin mit meinen Karten vor dem Kinoeingang beweihräucherte, vor der Nase der Schlangestehenden. Um dann festzustellen, dass meine drei Männer drei Minuten zu spät kamen. Und wir nicht mehr reingelassen wurden. Wie soll man das jemandem begreiflich machen? Ich schwieg, mir ging es langsam besser.
Das letzte Mal, das ich so geweint habe, war 1990, als ich beim ersten Gang nach Westberlin meine ersten 100 DM, die ich geschenkt bekommen hatte, an einen Hütchenspieler auf dem Ku’damm verlor. Meine Tränenströme konnten das Herz des Hütchenaufsehers nicht erweichen. Am nächsten Morgen, dem letzten Berlinale-Tag, war ein weiterer Besuch anberaumt. Das Frühstück wurde mir ans Bett serviert. Eine halbe Stunde vor dem Termin standen die Jungs fertig vor der Tür. Die Sonne strahlte. Der Film war spitze. Es gibt doch Gerechtigkeit auf Erden.
Irina Serdyuk
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