: Kreativ wuchernde Welle
In der vierten Ausgabe von „Rekonstriktion: Filmland Rumänien“ versteckt sich eine Miniretrospektive zu einem der interessantesten zeitgenössischen Regisseure
Von Fabian Tietke
Auf dem Monitor des Schneidetischs laufen Bilder des rumänischen Einmarsches in Odessa während des Zweiten Weltkriegs. Dann sehen wir die junge Theaterregisseurin Mariana Marin bei der Auswahl der Komparsen für eine Inszenierung, an der sie arbeitet: eine kritische Reinszenierung des Einmarsches in Odessa und der Massaker, die rumänische Truppen dabei begingen; auch die rumänische Verwicklung in den industriellen Mord an Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma greift die Inszenierung auf. Die junge Regisseurin setzt all dies in endlosen Debatten durch gegen ihre Komparsen, die das für „antirumänisch“, gegen ihren Freund, der findet, sie sei jetzt aber etwas „besessen“ von dem Thema, gegen einen Angestellten der Stadtverwaltung, der ihr nahelegt, doch lieber was über „roten Terror“ zu machen, das gehe immer. Radu Judes „I Do Not Care if We Go Down in History As Barbarians“ spannt ein Panorama der rumänischen Erinnerungspolitik auf, zeigt den Revisionismus der frühen 1990er Jahre und die Geschichtsklitterungen, die für die Menschen längst zu Lebenslügen geworden sind.
Sehr zu Recht eröffnet Radu Judes Film kommenden Dienstag die Filmreihe „Rekonstruktion: Filmland Rumänien IV“ im Berliner Zeughauskino, in der das Kino die unterdessen vierte Bestandsaufnahme des zeitgenössischen rumänischen Kinos unternimmt. Seit 2009 widmet sich das Zeughauskino in unregelmäßigen Abständen dem rumänischen Kino. Was 2007 mit der Goldenen Palme in Cannes für Cristian Mungius „4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage“ als Neue Welle begann, ist längst in einem Meer lebendiger Filmkultur aufgegangen. Von den großen Filmfestivals hat allerdings nur noch die Berlinale verlässlich rumänische Filme im Wettbewerb, Cannes beschränkt sich darauf, jeweils Cristian Mungius neusten Film zu zeigen.
Dabei ist das rumänische Kino eher interessanter geworden: Vor einigen Jahren nahm sich Radu Jude einer autobiografischen Erzählung des jüdisch-rumänischen Schriftstellers Max Blecher über dessen Zeit in einem Sanatorium an. „Scarred Hearts“ erzählt in teils absurden, teils bedrückenden Bildern aus dem Leben des Protagonisten, der immer mehr Gewissheit bekommt, das Sanatorium nicht mehr lebend zu verlassen. „Scarred Hearts“ ist einer der schönsten, beeindruckendsten und formvollendetsten Filme, die im europäischen Kino der letzten 20 Jahre entstanden sind. Der Film alleine wäre die Filmreihe im Zeughauskino wert, gäbe es nicht noch andere Perlen zu entdecken. Radu Judes Gang zurück in die Geschichte begann 2015 mit dem epischen Rumänien-Western „Aferim!“ und setzte sich fort über „Scarred Hearts“ bis zu „I Do Not Care if We Go Down in History As Barbarians“. Dazwischen entstand der Dokumentarfilm „Tara Moarta“ („The Dead Nation“) über jüdisches Leben und den Faschismus im Rumänien der 1930er und 1940er Jahre. Auf „I Do Not Care if We Go Down in History As Barbarians“ folgte der Kurzfilm „The Two Executions of the Marshal“, der sich mit der Hinrichtung des rumänischen Diktators Ion Antonescu 1946 befasst, aber leider nicht im Rahmen der Filmreihe gezeigt wird. Bis auf diese Auslassung ist in „Rekonstruktion: Filmland Rumänien IV“ jedoch eine Miniretrospektive zu einem der interessantesten Regisseure des zeitgenössischen Kinos versteckt.
Auch Radu Judes Kolleginnen und Kollegen haben sich teils neu orientiert: Corneliu Porumboiu, der in den Anfangsjahren der rumänischen Neuen Welle mit der Komödie „12:08 East of Bucharest“ und dem dokumentarisch-dichten Drama über einen Polizisten in „Police, Adjective“ bekannt wurde, wechselt in den letzten Jahren furios zwischen Spielfilm und Dokumentarfilm. In „The Second Game“ kommentiert Porumboiu gemeinsam mit seinem Vater ein Fußballspiel von 1988. Porumboius Vater war Schiedsrichter ebendieses Spiels. Das Gespräch zwischen Vater und Sohn driftet hin und her zwischen dem Spiel zwischen dem Fußballverein der rumänischen Armee und dem des Innenministeriums, biografischen Entscheidungen und rumänischer Politik. In „Football Infinite“ porträtiert Porumboiu die Leidenschaft des Präfekturangestellten Laurenţiu Ginghinăs, der seit einer Verletzung an einer Fußballvariante arbeitet, die möglichst verletzungsfrei werden soll und zugleich den Ball befreien soll. Wie der Präfekturangestellte den Ball, so haben sich die rumänischen Regisseurinnen und Regisseure in den letzten Jahren erfolgreich selbst befreit. Das Label der Neuen Welle ist längst zu eng geworden, um die kreativ wuchernden Filmwelten in den Griff zu bekommen. Sehr erfreulich, dass das Zeughauskino dem rumänischen Filmschaffen treu bleibt.
Hyperlink:=Rekonstruktion: Filmland Rumänien IV: Zeughauskino, 26. 2. bis 30. 3.
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