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Flucht aus dem Gerede

An den Hamburger Kammerspielen gibt Carlo Ljubek mit einer komprimierten Fassung von Moritz Rinkes „Westend“ sein Regiedebüt: Komik und Ernst sind dabei genau austariert

Statt Verwandschaften nur Triebkräfte: Für Eduard (Stephan Kampwirth) ist Nachbarstochter Lilly (Emma Bading) vor allem ein Objekt der Begierde Foto: Bo Lahola

Von Jens Fischer

Nicht mehr Utopien treiben sie um, nur noch kleine Erwartungen. Sie flüchten aus Verunsicherung in Besitz, Flirt und Gerede. Und so setzt Moritz Rinke ganz klassisch auf Figurenentwicklung im Konversationston. Sein Stück „Westend“ formuliert er wie Empfindsamkeitsetüden des gehobenen Bürgertums. Und keine Hamburger Sprechtheaterbühne bietet dafür ein dankbareres Publikum als die Kammerspiele – wo sich Ärzte, Unternehmer, Künstler selbstironisch über Sitten-Polaroids ihrer Lebensart freuen.

Als Variation auf Goethes „Wahlverwandtschaften“ hat Rinke diese entwickelt, es geht um Affinitäten und Verbindungen, die sich beim Eintreffen weiterer Personen lösen und zu neuen Paarbildungen führen. So wie in der Klassiker-Vorlage die Adeligen Eduard und Charlotte ihr Aneinandervorbeileben vom arbeitslosen Otto und der elternlosen Ottilie durcheinander bringen lassen, laden sich bei Rinke der Schönheitschirurg Eduard und die Opernsängerin Charlotte den beziehungs- und wohlstandsflüchtigen Mediziner Michael und Nachbarstochter Lilly ein, Medizinstudentin mit Schwerpunkt Psychosomatik.

Die gereizten Kreuz- und Querverbindungen und Traumata-Entblößungen des Personals entwickelt Rinke lässig im Stil eines amüsierten Realismus. Und so legt auch Carlo Ljubek die Inszenierung an, seine erste Regiearbeit, hauptberuflich gehört er zum Ensemble des Deutschen Schauspielhauses. Die dreistündige Uraufführungsfassung des überladenen Stücks hat er auf gut anderthalb Stunden komprimiert – um sich genauer auf die Narzissmen, Neurosen, Liebeleien, Befindlichkeiten und Hahnenkämpfe einlassen zu können.

Die Bühne dafür ist so leer wie die bezugsfertige Villa von Eduard und Charlotte im Berliner Westend. Ihre nach zwei Jahren schon leerlaufende Ehe soll dort revitalisiert werden. Aber Eduard zweifelt: „Vielleicht ist die Welt auch zu beweglich für so was Unbewegliches wie die Ehe.“ Möglicherweise ist er auch nur faul in der Beziehungspflege, hat jedenfalls ihren Geburtstag vergessen, redet sich aber rührend raus – Charlotte strahlt. So will sie ihn: unsicher, bemüht – als Vater der ersehnten Kinder.

Was sie aber nicht ausspricht, stattdessen: Neckerei. „Gut, dass wir mal streiten, da erfahren wir was voneinander“, sagt Eduard. Der versteht sich als Seelendoktor für würdevolles Altern; das seinige schmückt er gern mit Jugend, mit Lilly etwa, die von der Natur dieses Stupsmäuschen-Antlitz geschenkt bekam, das er anderen Frauen erst modellieren muss. Sie liebäugelt um Eduard herum – Vaterersatz mit Liebhaber-Bonus soll er werden.

Schmerzbewusstes Schmunzeln

Charlotte findet das nicht witzig: „Zieh doch mit ihr in eine Dachkammer nach Salzburg! Schau dir ihre Brüste an, friss Mozartkugeln, nach zwei Wochen bist du wieder hier.“ Der Ton wird rauer, aus Sticheleien werden Wortgefechte, als Michael auftritt und von seinem Einsatz für Ärzte ohne Grenzen in Afghanistan erzählt: amputierte Beine, aus Köpfen sezierte Splitter, sinnloses Sterben. „Westend“ soll auch das Ende der wohlsituierten westlichen Arroganz prophezeien. Aber die Debatten bleiben in Ansätzen stecken, sind nur Mittel zwischenmenschlicher Kriege.

Früher habe man geglaubt, erzählt Lilly, dass miteinander reagierende Stoffe, aufeinander reagierende Menschen eine Verwandtschaft hätten, „aber in Wirklichkeit haben sie nur Triebkräfte“. Also Schluss mit Romantik und Idealismus, her mit Begründungen der eigenen Rat- und Tatenlosigkeit. „Wir haben viel zu lang geschlafen, und nun wachen alle auf, aber es ist viel zu spät!“, findet Eduard.

Bei solchen Sätzen tariert Ljubek Komik und Ernst aus, will das Scheitern der Figuren verstehen, reißt also ihre Wunden und gegenseitige Verachtung auf. So präsentiert er das emotionale Durcheinander mit sanftem Humor – und gewinnt auch schlichten Gags Empathie hinzu. Wenn in einer hübsch symbolischen Passage Charlotte etwa erzählt, aus der „Schöpfung“ gefallen zu sein – gemeint ist ihre Rolle in Haydns Oratorium – und nur noch das finale Amen singen zu dürfen, heißt es: „Dann hast du immerhin das letzte Wort.“ Das ist in den Kammerspielen kein Schenkelklopfer, sondern eine des Schmerzes voll bewusste Schmunzel-Pointe.

Erst, als der Text in Parodie kippt, gibt Ljubek dem Affen Zucker. Lillys Vater Marek tritt auf, ein Filmregisseur, mit seiner Freundin Eleonora, eine pathetisch auftrumpfende Diva. Stephan Schad und Karoline Eichhorn versuchen in diesen Rollen gar nicht erst den Psychorealismus der Kollegen, die diese Volte in die Karikatur mit Sitztanz-Jokus und Opiumrauchen feiern.

Marek wettert schließlich als alter Macho gegen Emanzipation, hinreißend forciert ist dieser Auftritt und lenkt alle Konzentration auf das scheiternde Happy End: Charlotte sagt, sie sei schwanger, wolle nun Familienleben. Aber Eduard fragt nach einem Vaterschaftstest und sie geht. Am Ende bleiben nicht mal die Erwartungen.

Mi, 23. 1., 20 Uhr, Hamburg, Kammerspiele, weitere Termine: 25. – 27. 1., 29. / 30. 1.

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