: Das amerikanische Paradies
„Tage ohne Ende“: Sebastian Barrys opulenter Roman feiert und dekonstruiert den Mythos Western
Von Thomas Schaefer
Fünfzig Jahre nachdem „Spiel mir das Lied vom Tod“ dem klassischen Western den Abgesang gespielt hat, erweist sich das Genre immer noch, ja immer mehr als nicht totzukriegen. Auf dem Filmfestival von Venedig starteten unlängst in „The Sisters Brothers“ und „The Ballad of Buster Scruggs“ zwei Western im Wettbewerb, zuvor lief „Hostiles“ in den Kinos an. Dass diese Filme den Mythos kritisch brechen, fügt sich in eine fast schon eigene Tradition.
Doch nicht nur im Kino gedeiht der Western, auch in der Hochliteratur, und zwar merkwürdigerweise der europäischen. Vor fünf Jahren bürstete die Französin Céline Minard das Genre mit dem feministischen Western „Mit heiler Haut“ gegen den Strich. Jetzt hat Sebastian Barry nachgelegt. Der 1955 geborene Dubliner hat sich den Ruf als einer der wichtigsten irischen Autoren mit Dramen und Romanen erworben, die irische Geschichte, zuvörderst den Bürgerkrieg, thematisieren. Dass er sein Augenmerk nun gen USA lenkt, kann nur auf den ersten Blick überraschen: Schließlich waren es auch Iren, die deren Geschichte als Einwanderer mitgeschrieben haben.
Sebastian Barry: „Tage ohne Ende“. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Steidl, Göttingen 2018, 261 Seiten, 22 Euro
So auch Thomas McNulty, der Ich-Erzähler in „Tage ohne Ende“. Verarmt und verwaist sieht sich der „vielleicht“ 15-Jährige zu Beginn statt mit einem wie auch immer gearteten American Dream mit einem Albtraum konfrontiert. Als er sich vor einem Unwetter in ein Gebüsch verkriecht, kommt es zur schicksalhaften Begegnung: Dort hockt ein anderer Verlorener, der etwa gleich alte John Cole. Gemäß der Devise „zu zweit ist besser“ beschließen diese beiden „Hobelspäne der Menschheit in einer rauen Welt“, es mit derselben aufzunehmen, und dass sie das ihr ganzes Leben tun können, gehört zu den wenigen glücklichen Fügungen in einem sehr düsteren, fatalistischen Roman. Zunächst landen sie in einem Saloon, wo sie ihr Geld verdienen, indem sie als Frauen verkleidet mit Bergarbeitern tanzen, ein Job, der alle Beteiligten kurzfristig zu sanfteren Menschen macht. Mit der Pubertät endet die Idylle, Tom und John werden Soldaten. Alsbald an die westliche Frontier abgestellt, nehmen sie teil am Genozid an den Indianern, dessen einzelne Massaker Barry grausam schildert.
In Wellenbewegungen verlaufen die Lebenslinien der Freunde: Friedvolle Phasen mit Ansätzen, zur Ruhe zu kommen, werden durch die Rückkehr ins Soldatenleben unterbrochen, mal durch Feldzüge gegen die Sioux, mal durch den Bürgerkrieg. Offensichtlich hat es Barry großen Spaß gemacht, alle Register des Genres zu ziehen und allerlei Anspielungen auf dessen Klassiker unterzubringen. Sein Buch wirkt wie eine literarische Antwort auf „Der mit dem Wolf tanzt“. Dessen Cinemascope-Ästhetik setzt Barry in eine adäquate Sprache um: Die metaphernsatten Schilderungen von Landschaften, deren „Schönheit unsere Knochen durchdringt“, bilden den Stil des Romans, spiegeln und prägen die Persönlichkeit McNultys.
Der ist als Prototyp eines universal soldiers hin und her gerissen zwischen der Loyalität, auf der die „Moral“ der Truppe aufbaut, ja sogar der „seltsamen Freude“ an der „Arbeit“ des Tötens auf der einen Seite und andererseits dem Ekel und Entsetzen angesichts des eigenen Tuns, der Entgrenzung, Entmenschlichung, des völligen Kontrollverlusts: „Wir lachen, während wir schießen. Wir brüllen, während wir schießen. Wir weinen, während wir schießen.“ Es ist eine Ambivalenz, die er vergebens für sich zu klären versucht und die Barry in McNultys Sprache abbildet: einerseits von cooler Schnoddrigkeit, andererseits erhaben und methapernreich. Vermutlich wäre dieser überforderte pikareske Held verloren, gäbe es nicht den Halt durch John, der rasch mehr geworden ist als ein Kamerad: Zwischen beiden entspinnt sich eine Liebesgeschichte, die sie im Armeemilieu nur sehr behutsam leben können.
Im Roman steht sie deutlich symbolisch als Gegenpol zu den Brutalitäten des amerikanischen (Männer-)Daseins: als Utopie einer menschlichen Welt, als wahre Erfüllung des amerikanischen Traums vom befreiten Leben. Denn natürlich hat Barrys opulenter Abenteuer- und Antikriegsroman, der den Mythos des Westerns zugleich feiert und dekonstruiert, auch eine dezidiert politische Ebene: „Was für eine Welt schaffen wir?“, fragt sich McNulty: „Schätze, jetzt gründen wir das amerikanische Paradies.“ Die sarkastische Art, in der er die Entstehung der amerikanischen Nation aus Völkermord und Bürgerkrieg ableitet, bietet sich auch als Erklärungsmuster für deren gegenwärtigen Zustand an.
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