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Survival of the Hippest

Innovativ und mutig gibt das Berliner Staatsballett in der Komischen Oper den Saisonauftakt. Eine neue Spezies groovt über die Bühne

Von Astrid Kaminski

Das Staatsballett lebt. Es hat überlebt. Das war im Jahr 2016 nicht voraussehbar. Damals widersetzten sich die Tänzer*innen der Berufung von Choreografin Sasha Waltz und fürchteten um den Ruf der Kompanie als klassisches Ballett. Aber Streit lässt sich offenbar schlichten, Angst moderieren, Furcht mit Hoffnungen befruchten.

Als das Staatsballett nun in der ersten Spielzeit unter der neuen Intendanz, die zunächst aus dem Schweden Johannes Öhman besteht und erst im nächsten Jahr durch Sasha Waltz ergänzt wird, die Saison eröffnete, war das Staunen groß: Eine neue Spezies groovt über die Bühne. Klassische und zeitgenössische Tänzer*innen bilden zusammen das neue Ensemble, sie werden sich je nach Stil ergänzen oder auf verschiedene Produktionen aufteilen. Bei der Eröffnung war Ersteres der Fall.

Seltsam gespannte, undurchdringliche Körper in Unisex­trikots, die einen leichten Algenflor angesetzt zu haben scheinen, marschieren in der Choreografie „Half Life“ von Sharon Eyal in gedehntem Tempo im Pulk. Sie bewegen sich exakt zum sukzessive geschichteten Technobeat der israelischen Clubgottheit Ori Lichtik, zwischen ihren Füßen und dem Parkett scheint jedoch Watte zu liegen: Der Impuls des Beats ist abgebremst, geht nicht in den Boden, sondern schnellt wie ein verzweigter Blitz den Körper hinauf, lässt Gliedmaßen zucken, den Rumpf wie von einem Stoß zur Seite weichen, Hände in Posen pulsen.

Voguing und Twerking

Irgendwann erreicht der Pulk die zwei Prototypen, Mann und Frau ohne herausstechende sexuelle Attribute, die, zentral im Bühnenraum, in einem repetitiven Muster wie in einem GIF gefangen sind. Zwei Bienenköniginnen, die ein Reproduktionsprinzip verkörpern, oder auserwählte Opfer, die im kosmisch-milchigen Scheinwerferlicht auf ein „Dogville“-Kommando warten? Die Stimmung kann jeden Moment kippen.

Die Choreografie hat Intendant Öhmann vom Royal Swedish Ballet mitgebracht. Dort hat sie Sharon Eyal zusammen mit Gai Behar 2017 entwickelt. Die Choreografin mit Balletthintergrund hat lange für die israelischen Batsheva Dance Company gearbeitet, deren Gaga­stil jedoch abgelegt. „Half Life“ trägt den Duktus der Choreografien für ihre eigene Kompanie L-E-V: Auseinandersetzungen mit Mensch-Maschine-Kollektivkörpern, die in technoider Monotonie polyrhythmische Bewegungsmuster hervorbringen, seriell variieren und dabei wie lebendig gewordenes Metall wirken.

Stilistisch beherrschen das als queerer Tanz im Harlem der 1980er entstandene Voguing und die schlangenartigen Körperwellen und Hüftknicke des aus afroamerikanischen Kulturen stammenden Twerking das Vokabular. Man kann das eine Appropriation nennen. Oder auch eine Referenz. Die selbst ermächtigenden Verführungsposen aus Gegenkulturen sind zum Chic von Clubszenen geworden. Eyal macht die Nacht zum Tag und entwirft eine totalitäre posthumane Gesellschaft nach den Regeln der ­Hipness. Sogar ein paar Ballettpositionen und -figuren finden mit der Zeit ihren Platz im Showing-off-Vokabular.

Der Impuls des Beats schnellt wie ein Blitz den Körper hinauf, lässt Gliedmaßen zucken

Gegen Eyals physisch und wohl auch psychisch anspruchsvollen Androidentanz wirkt der erste Teil des Abends wie die Vorband. Vier von Nick Caves schmackhaft instrumentierten Gottessuchersongs werden in der Choreografie „Your Passion is Pure Joy to Me“ (2009) von Stijn Celis gegengeblendet mit kurzen und leider plärrend abgespielten Auszügen aus ­Pierre Boulez’ „Anthèmes“ und ­Krzysztof Pendereckis „Fluorescences“, während der Tanz nach einem postmodernen Stil mit Schwung- und Pendelbewegungen, Contact Improvisation, Urban Moves und Release sucht. Viel Stop-and-go im horizontal angelegten Flow, neutrale Körper mit dem Hang, sich am Ende einer Phrase noch in eine Rockstarpose zu werfen.

Nervös aufgeladen

Dass Boulez’ hoch formal experimentierendes Live-Electronic-Werk im Programmheft zusammen mit Penderecki als „kakophonisch“ bezeichnet wird, spiegelt in etwa die Differenzierungsschärfe der Choreografie, der es eher um Didaktik zu gehen scheint: Wenn sich plötzlich ein Vorhang (aus einzelnen Prospekten mit nichtgegenständlicher Plakatmalerei) wie in William Forsythes Dekonstruktionsballett „Artifact“ von 1984 senkt und wieder auftut, soll wohl betont werden, dass es hier um Abstraktion, Rahmung und Rekombinatorik geht.

Der technisch nicht ganz perfekte Tanz wird – in seiner Vereinzelung und säkularen Distanzsuche – von einem durchaus diversen Publikum im Durchschnittsalter Nick Caves milde aufgenommen. Die anschließenden Standing Ovations für Eyal zeigen dann im nervös aufgeladenen Raum: Das Berliner Ballettpublikum ist bereit für Neues.

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