der rote faden: Prost, Halbzeit. Doch irgendwie geht einiges bergab
Durch die Woche mit Johanna Roth
Halbzeit, liebes Publikum! Das Jahr ist an diesem Wochenende zur Hälfte vorbei, die Weltmeisterschaft sogar schon ganz. Ach was, nicht nur die: Der Sommer hat schlicht den Sinn verloren, Bier mögen wir auch keines mehr, vom Untergang des Abendlandes ganz zu schweigen. Seitdem zwei Bälle in Manuel Neuers Vorrundentor kullerten, sind die Straßen wie leer gefegt. Nur manchmal sieht man eine Gardine ganz leicht sich bewegen, pustet jemand auf der Suche nach Trost in eine heimlich mit nach Hause genommene Vuvuzela, trottet mit hängenden Schultern ein Kind über die staubige Fanmeile, einen zerbeulten Fußball bekümmert vor sich herschiebend.
Am härtesten getroffen schien der Berliner Kurier, der seine Titelseite am Donnerstag gegen eine großformatige Anzeige tauschte: „Wir trauern um Schland, 2006–2018“. (Wer hat denn bitte nach 2010 noch „Schland“ gesagt? Und sind es dieselben Menschen, die 2014 ein Spielfeld aus Zwiebelmett formten und 2018 Toilettenpapier mit Rasenduft kaufen?) Dann doch gleich die ganz dicken Stifte auspacken wie der Kölner Express, dessen Seite eins am Donnerstag das WM-Aus mit angemessenem Tiefgang verkündete: „Der Untergang“. Natürlich ließ die entsprechende Kommentierung der Titanic-Kollegen da nicht lange auf sich warten: „Jogi Löw hat sich im WM-Quartier erschossen.“ Deutschland, einig Gagaland.
Aber reden wir nicht groß drum herum: Es geht bergab, und das nicht nur im Fußball. Nehmen wir uns also die regelmäßig an diesem 30. Juni eingefügte Schaltsekunde Zeit, um allumfassend Abschied zu nehmen. Anlässe gab es in dieser Woche genug.
1. Danke, Jogi! Als stets frohgemute wie verlässlich ahnungslose Fußballguckerin geriet ich am Donnerstag mit diversen KollegInnen in Streit, die erklärten: Der MUSS jetzt zurücktreten, ist eben so. Ich, bockig: Darf man nicht mal verlieren? Was ist denn das für ein Argument, „das ist eben so“? Und ihr erzieht Kinder?! Überzeugt hat mich dann am Ende der Kompromissvorschlag: Wenn, dann sollten einfach ALLE zurücktreten. Und künftig auf einer grau melierten Sitzlandschaft dahinmeditieren, ab und an versonnen an einer großen Dose Nivea-Creme schnuppernd.
2. Tschüss, Herr Minister! Tach, Kollege! Sigmar Gabriel, neulich noch Außenminister, wird einer von uns: Autor, unter anderem für Handelsblatt und Zeit. Das Bundeskabinett hat die neue Tätigkeit schon genehmigt, da muss man ja jetzt immer fragen, wegen Karenzzeit und so. Ob er dazu auch in der SPD-Zentrale angerufen hat, einfach so zum Spaß, um der alten Zeiten willen? Die Nachricht, dass er mit seinen gefürchteten Querschlägen Richtung Parteispitze jetzt auch noch Geld verdient, dürfte dort jedenfalls grenzenlose Begeisterung ausgelöst haben.
Apropos, 3., ade, SPD. Mit Andrea Nahles, so munkelte man ja, würde es endlich wieder kämpferisch, laut, ein bisschen linker auch. Und nun? Die Unionsgeschwister beharken sich, die Regierung droht auseinanderzufliegen – und die SPD bedauert, so richtig gut sei das natürlich nicht, mhm, jaja, mal abwarten. Klar, für Neuwahlen wäre dieser ein denkbar schlechter Zeitpunkt, ohne Kampagne und eindeutige Spitzenkandidatur. Aber man wird angesichts der immer lauteren Stille den Gedanken doch nicht los, dass die SPD sich selbst gar nicht so sicher ist, wo sie asylpolitisch steht. Eher links, also da bei Merkel? Oder doch eher für „pragmatische Lösungen“? 13 Jahre nach jenem 1. Juli, an dem Gerhard Schröder die Vertrauensfrage stellte und mit sich selbst gleich die komplette 40-Prozent-Wahlsieg-Sozialdemokratie stürzte, scheint sie sich endgültig von sich selbst verabschiedet zu haben.
4. Endlich Schluss mit der Geisterbahn BER! Der Flughafen wird jetzt als Parkplatz genutzt. Und zwar von VW – für jene Autos, die noch durch die Abgastests müssen. Vielleicht könnten die sich im Gegenzug mal die Flughafensoftware angucken?
5. Kluger Umweltaktivismus? Früher mal. Die sonnengelbe Farbe, die Greenpeace rund um die Berliner Siegessäule auskippte, brachte nicht das erhoffte Umdenken in Sachen Kohleausstieg. Stattdessen rutschten RadfahrerInnen kräftig aus.
Zu guter Letzt verabschieden wir uns von der letzten dieterminismusfreien Sendung auf RTL. Neben den Nuhrs und Bohlens gab es dort nämlich noch Alexander Kluge, dessen Kultkultursendung „10 vor 11“ sich seit den Achtzigern hielt. Viel Helge Schneider, das nervte manchmal, aber am besten war eh Kluge selbst, ruhig fragend und weise sagend und ewig alterslos, der auf „Cobra 11“ und „Let’s Dance“ unbeirrt Durs Grünbein und Giorgio Agamben feuerte. Fußball können wir nicht mehr, Sozialdemokratie auch nicht, und der letzte Intellektuelle hört endgültig auf. Bitte, lieber Alexander Kluge, der Sie alles wissen: Wie geht es jetzt nur weiter mit Deutschland?
Nächste Woche Nina Apin
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