: Lebe wohl, Leipzig
Zur letzten Ausgabe der Leipzig-Seite schreiben drei tazler*innen Texte zum Abschied. Unsere Autorin verlässt die Stadt Richtung Norden; sie ist wehmütig, aber auch erleichtert
Von Nadja Mitzkat
Als Familie gibt es eigentlich keinen Grund, Leipzig zu verlassen. In dieser Stadt können sich Eltern und Kinder gleichermaßen wohl fühlen. Sie ist groß genug, um jede Menge Kultur zu bieten: Wenn ich möchte, kann ich mir die Abende mit Ausstellungseröffnungen und Vorträgen vertreiben, mir die Nächte in den Off-Kinos, Bars und Clubs um die Ohren schlagen.
Gleichzeitig ist Leipzig klein genug, um Kindern ein bisschen Bullerbü zu bieten. Die Wege sind kurz und lassen sich größtenteils mit dem Fahrrad zurücklegen. Nachmittags sind wir deshalb oft am See oder in einem der weitläufigen Parks. Anders als in den deutschen Millionenstädten mit ihren aus U- und S-Bahnen strömenden Menschenmassen bin ich in Leipzig nicht gestresst, wenn ich mich mit den Kindern durch die Stadt bewege.
Für eine Großstadt lebt es sich erstaunlich entspannt hier. Als ich 2005 aus Berlin zum Studium herkam, konnte ich dem zunächst nur wenig abgewinnen. Auf den menschenleeren Straßen fühlte ich mich einsam, und die Alternativszene mit Dreadlockträgern in Cordschlaghosen empfand ich als unfassbar unzeitgemäß. Ich ereiferte mich darüber, wie improvisiert alles aussah. Ganz so, als hätte jemand die in Hamburg, Berlin oder München entwickelten Ladenkonzepte geklaut und dann weniger gut umgesetzt.
Mittlerweile weiß ich das Unfertige zu schätzen. Die Stadt hat eine Haltung, die über die bloße Verweigerung, den Modetrends zu folgen, hinausgeht. Sie widersetzt sich dem neoliberalen Imperativ aus Arbeit, Konsum, noch mehr Arbeit und noch mehr Konsum – und bietet all jenen einen Platz, die dieser Spirale entfliehen wollen.
Nach über zehn Jahren in der Stadt habe ich mich an den im Rest der Republik belächelten Dialekt gewöhnt. Mittlerweile höre ich den weichen Singsang sogar ganz gern. Die sächsische Mentalität ist mir hingegen fremd geblieben. Zwar bin ich ebenfalls Ostdeutsche, aber als Berlinerin irritiert mich die weit verbreitete Mischung aus Regionalpatriotismus, geistiger Enge und dem Gefühl, zu kurz gekommen zu sein, stets aufs Neue.
In Leipzig konnte ich all das lange verdrängen. Die Stadt schien mir so viel bunter, offener und weltläufiger als der Rest Sachsens zu sein. Für mich stand fest: Leipzig ist die linke Enklave im konservativen bis reaktionären Sachsen. Während Pegida in Dresden zehntausendfachen Zulauf erhielt, haben wir hier schließlich Legida gleich zu Beginn in die Schranken verwiesen.
Wie passend, dass dem Linken Sören Pellmann bei der Bundestagswahl im Herbst 2017 das Husarenstück gelang, sich im Leipziger Süden gegen seinen Konkurrenten von der CDU durchzusetzen und per Direktmandat ins Parlament einzuziehen.
Doch die Freude währte nur kurz, denn ein genauerer Blick auf die Wahlergebnisse zeigte – fast jeder fünfte Leipziger hat sein Kreuzchen bei den Blauen von der AfD gesetzt. Seitdem hat sich mein Blick auf die Stadt gewandelt, ist misstrauischer geworden. Ich beobachte meine Mitmenschen genauer, frage mich, wer von ihnen wohl auch für die konsequente Abweisung aller Geflüchteten wäre.
Müssten wir nicht gerade jetzt bleiben, um dem blau-braunen Sumpf etwas entgegenzusetzen? Nein, denn es würde nichts ändern. Jenseits von Demonstrationen gibt es kaum Kontakte zwischen den Linken-Wählern aus den zentrumsnahen Bezirken und den AfD-Befürwortern am Stadtrand. Man bleibt im Alltag unter sich. Dass wir gehen, macht de facto keinen Unterschied.
Mich treiben nicht nur die Wahlergebnisse fort, sondern auch eine Sehnsucht nach Vielfalt, die Leipzig auch unter anderen politischen Vorzeichen kaum stillen könnte. Zwar gibt sich die Stadt gerne weltläufig. Dabei schreckt das Stadtmarketing auch nicht davor zurück, sich den von André Herrmann in ironischer Absicht gebrauchten Begriff „Hypezig“ anzueignen. Doch ist Leipzig in mancher Hinsicht provinziell. Das internationale Flair beschränkt sich zumeist auf vietnamesische Obststände und arabische Falafelverkäufer. Man schmort hier häufig im eigenen Saft. Gute Ideen von außen fehlen. Denn Kreative und Unternehmer aus aller Welt siedeln sich lieber in den Großstädten im Norden, Westen oder Süden Deutschlands an.
Aber dafür kann man die Mieten noch bezahlen, mag jetzt manch einer denken. Doch wird die beständig wiederholte Erzählung, in Leipzig lasse es sich aufgrund der niedrigen Lebenshaltungskosten fantastisch leben, dadurch nicht wahrer. Sie gilt nur noch für bestimmte Gruppen. Studierende, die von ihren Eltern unterstützt werden oder Bafög beziehen, finden hier eher ein erschwingliches Zimmer als in Hamburg, Berlin oder München. Und auch Freiberufler mit Auftraggebern im Westen profitieren.
Für alle anderen gilt: Nicht nur die Lebenshaltungskosten sind niedrig, sondern auch die Löhne. Denn in und um Leipzig gibt es kaum große Unternehmen. Insbesondere Geisteswissenschaftler, die in der Stadt bleiben wollen, müssen sich ihre Stelle häufig erst schaffen. Wer auf Nummer sicher gehen und beruflich vorankommen will, tut es den mehr als 20.000 Menschen gleich, die Jahr für Jahr die Stadt verlassen und geht, wie ein knappes Viertel von ihnen, in den Westen – zumindest temporär.
Und so teilt sich unser Leipziger Freundeskreis in drei große Gruppen: diejenigen, die Glück hatten und eine Festanstellung ergattern konnten; diejenigen, die selbstständig als Lektoren, Websitedesigner und Fotografen arbeiten – häufig für weniger als die rund 1.300 Euro netto, die Leipziger durchschnittlich pro Monat verdienen; und diejenigen, die in Hamburg, München oder Köln ihr Glück suchen.
Zu der letztgenannten Gruppe zählen ab Juli dann auch wir. Leipzig, wir werden deine entspannte Art vermissen!
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