: Angriff auf die Fuckerbande
Die Noise-Band Die Nerven erschafft im Festsaal Kreuzberg ein mächtiges Kraftzentrum
Von Jan Jekal
Der Festsaal Kreuzberg erinnert an einen Stripclub: die Sitzecken mit roter Ledergarnitur, die Samtvorhänge, die Pendelleuchten. Sogar Pole-Dancing-Stangen gibt es. Als das Konzert der Nerven beginnt, ist der Vibe sofort ein ganz anderer. Stroboskopblitze, Donnergrollen. Eine verhallte elektrische Gitarre erklingt, dann folgt der Angriff.
Die in Stuttgart gegründete Band Die Nerven ist in Berlin zu Gast, um ihr neues Album, „Fake“, vorzustellen. Und es ist erstaunlich, was für einen Lärm diese drei Personen verursachen können. Bei den ersten Liedern ist das Publikum noch zurückhaltend, es muss erst auf Temperatur kommen – im Gegensatz zur Band, die von Beginn an heiß und hungrig ist und sich beweisen will, so scheint es. Beim dritten Lied erreicht das Publikum das Energielevel der Band. Ein Moshpit formiert sich, der von nun an nicht mehr zur Ruhe kommen soll.
Ködern, dann zuschlagen
Im Spannungsfeld zwischen schleichenden Crescendi und plötzlichen Lärmattacken lauern die Lieder der Nerven. Sie ködern und schlagen zu. Als das Publikum bei ihrem Hit „Angst“ eine Strophe mitsingt, fällt auf, wie wenig es sonst mitzusingen gibt: keine Slogans, die man grölen könnte. Die Lieder sind Stimmungen, von Geräuschen gebrochen, sind Tempo, sind Atmosphäre, Erregung und Entladung.
Die drei Musiker kommunizieren unentwegt, schauen sich an, schreien sich an, fordern sich heraus. Sie schaffen ein Kraftzentrum, setzen gemeinsame Energie frei. Der Gitarrist Max Rieger ist ein Riese mit kurz geschorenen Haaren und athletischer Statur. Er bringt sich in Form, er lauert auf den Ausbruch und schlägt dann mit seinem Instrument um sich. Seine Performance gleicht Leistungssport – und folgerichtig achtet er darauf, gut hydriert zu bleiben: Zwischen den Liedern trinkt Rieger gierig aus seiner Wasserflasche. Einen störenden Kameramann schiebt er an einem Punkt des Konzerts zur Seite, er braucht den Raum.
Rieger biedert sich nicht an, er gibt den Genervten, der sofort gequält die Miene verzieht, wenn jemand im Publikum den Mund aufmacht. Und er weist die Leute zurecht, wenn sie applaudieren, obwohl das Lied noch nicht vorbei ist. Rieger will kein Bespaßer sein; die Leute sollen ihm zuhören.
Schlagzeuger Kevin Kuhn trägt ein T-Shirt, auf das großformatig das Gesicht von Elmo aus der Sesamstraße gedruckt ist. Seine dunklen Haare sind lang und hängen über die Schultern. Ein wenig ähnelt er dem jungen Neil Young. Entweder ist er ohne Hose auf die Bühne gekommen oder er hat sie im Laufe des Konzerts ausgezogen. Jedenfalls trägt er am Ende keine Hose mehr. Meistens schlägt er zwei Becken gleichzeitig, und das mit voller Kraft, damit es richtig knallt. Nach dem Ende eines Lieds wirft er in einem Energieschub seine Drumsticks von sich – nur um sie dann schnell wieder aufzusammeln, weil das nächste Lied beginnt.
Bassist Julian Knoth trägt ebenfalls ein T-Shirt mit Motiv. Ein Bassist ist darauf zu erkennen, möglicherweise vermummt. Rieger trägt auch ein Statement-T-Shirt: Seines hat keinen Aufdruck, das ist sein Statement.
„Triff mich Bahnhofshalle, du Opfer“, singt Rieger in einem Lied, und Schlagzeuger Kevin Kuhn beschwert sich bei nächster Gelegenheit, dass man so ja nicht mit dem Publikum, „dieser Fuckerbande“, umspringen könne.
Als die Saallichter angehen, freuen sich die Leute, gesehen zu werden. Im Publikum sind mehr Leute mit Tocotronic- als mit Die-Nerven-Shirt. Dirk von Lowtzow ist bestimmt hier – natürlich ohne Tocotronic-Shirt.
Vom Zuschauerbereich aus kann man in den verglasten Backstage-Raum schauen, und zwischen der ersten und zweiten Zugabe sieht man Julian Knoth mit der flachen Hand und ganzer Kraft gegen die Scheibe schlagen, ganz so, als wolle er den Leuten sagen: „Wir haben’s euch gezeigt!“
Wenn es tatsächlich das ist, was er damit ausdrücken will, dann hat er recht: Sie haben es uns gezeigt.
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