Instabile Identität

THEATER Kleiner Abend, große Absicht: Im Theater unterm Dach inszeniert Ron Rosenberg den Monolog „Annes Schweigen“

■ An die Inszenierung von „Annes Schweigen“ schließt sich im Theater unterm Dach eine Reihe von Vorträgen und Gesprächen an. Mit Wolfgang Gust, Genozidforscher (20. 10.), der Psychologin und Traumaspezialistin Franziska Henningsen (4. 11.), dem Politik- und Literaturwissenschaftler Rolf Hosfeld (8. 11.). Mehr unter: annesschweigen.blogspot.de.

VON ESTHER SLEVOGT

Die Konstruktion auf der Bühne wirkt nicht sehr stabil: Von der Decke hängt ein kleiner, quadratischer Stahlfußtisch herab, ohne den Boden zu berühren. Den Nylonschnüren entlockt eine schwarzhaarige Frau, die bald die Bühne betritt, archaische Töne. Denn die Schnüre lassen sich auch als Saiten benutzen, wie ein Musikinstrument. Dazu singt die Frau auch, wahrscheinlich ein armenisches Lied. Denn um Armenien geht es an diesem Abend, genauer gesagt um die Schwierigkeit, sich in einem türkischen Umfeld zu einer armenischen Identität zu bekennen. Auf dem Boden liegt umgestürzt ein zweiter quadratischer Stahlfußtisch, der seine Beine dem von der Decke hängenden Tisch entgegenstreckt. Aber so recht kommen die Tischbeine nicht zusammen, sie sind mit Bändern aneinandergebunden, die die Frau im Laufe des Abends lösen wird. Diese Konstruktion (Bühne: Michael Graessner) wird den vagen Halt, den sie vorläufig noch hat, ebenso verlieren wie die Identitätskonstruktion der Frau namens Sabiha, um die es in diesem langen Monolog gehen wird.

„Annes Schweigen“ hat der deutschtürkische Dramatiker Dogan Akhanli seinen Text überschrieben. „Anne“ bezieht sich allerdings nicht auf den geläufigen deutschen Vornamen, sondern ist das türkische Wort für „Mutter“. Denn um das Schweigen einer Mutter geht es hier: einer Mutter, die ihrer Tochter verschwiegen hat, dass sie eigentlich Armenierin ist – und damit auch die Tochter keine Türkin ist, wie sie immer glaubte.

„Annes Schweigen“ wurde im Theater unterm Dach nun nicht einfach so aufgeführt, sondern in einen Kontext gebettet, der sich mit dem bis heute nicht aufgearbeiteten Völkermord an den Armeniern im zerfallenden Osmanischen Reich befasst. Es war ein Genozid, bei dem auch die Deutschen eine fatale Rolle spielten: das Wilhelminische Kaiserreich war mit dem Osmanischen Reich alliiert. „Wir brechen bewusst dort das Schweigen, wo es (1916) angefangen hat“, schreiben die Veranstalter mit Blick auf den Aufführungsort Berlin.

Gewichtige Grußworte, etwa von Grünenc-Chef Cem Özdemir, zieren den Programmflyer. Im Rahmenprogramm treten Fethiye Çetin, Autorin und Anwältin der Familie des ermordeten Hrant Dink, auf, Ralf Fücks, Chef der Heinrich-Böll-Stiftung, oder die Berliner Genozidforscherin Tessa Hofmann.

Man hat es also mit einem kleinen Theaterabend zu tun, der von großen Absichten flankiert wird. Sein Autor war ein in der Türkei politisch Verfolgter, bevor er sich in Köln niederlassen konnte. Im Programmheft werden auch andere Akteure ethnisch zugeordnet: jüdisch, armenisch, deutsch. Als müsse ein Kunstwerk (und auch ein politisches Anliegen) nicht zunächst für sich selber sprechen. So muss man erst durch das Gebirge der guten Absichten hindurch, bevor man sich der Kunst nähern kann. Was war also los, auf der Bühne im Theater unterm Dach?

In einem mehrperspektivischen Monolog wird die Geschichte der in Deutschland aufgewachsenen Sabiha erzählt. Der Name ist bewusst gewählt, denn er bezieht sich auf eine türkische Nationalikone, die erste Kampfpilotin der Welt, Sabiha Gökçen, einst von Kemal Atatürk entdeckt und gefördert. Ein Flughafen in Istanbul ist nach ihr benannt. 2004 löste der Schriftsteller Hrant Dink einen Skandal aus, als er anhand von Dokumenten belegte, das Sabiha Gökçen armenischer Abstammung war.

Die Theater-Sabiha hat ihre Identitätsprobleme als Türkin in Deutschland zu lösen versucht, indem sie sich einer nationalistischen türkischen Bewegung anschloss, wo man naturgemäß gegen Armenier ist. Ihre Geschichte wird zunächst aus der Perspektive ihrer besten (deutschen) Freundin erzählt. Irgendwann spricht die Schauspielerin Bea Ehlers-Kerbekian nur noch aus der Perspektive der Sabiha. Erzählt, wie die Mutter stirbt und die Tochter zwischen den Brüsten der Toten das armenische Kreuz tätowiert findet. Bea Ehlers-Kerbekian wirft sich mit Verve in die verwickelte Erzählung. Singt armenisch, spricht türkisch, wechselt die Stimmen und flicht in ihre Suada auch andere Identitätsgeschichten ein, durch deren Brüche man die Abgründe des 20. Jahrhunderts erahnen soll. Das ist oft sehr suggestiv, manchmal aber in seiner Überfrachtung auch anstrengend: Und man erfährt leider nicht viel über die Hintergründe des Konflikts oder darüber, worin für beide Seiten der Skandal besteht, in der Türkei Armenier zu sein.

■ „Annes Schweigen“: 20. 10., 3. 11., 4. 11., 8. 11., 9. 11., 29. und 30. 11., jeweils 20 Uhr, Theater unterm Dach, Danziger Straße 101