: Lineale im Seifenwasser
Eine Ausstellung im Braunschweiger Fotomuseum widmet sich den Geschichten, die auf den Bildern nicht zu sehen sind, aber von ihnen angerissen werden. Um Faktizität geht es dabei nicht
Von Bettina Maria Brosowsky
Blindlings naiv wird heute wohl kaum noch jemand darauf vertrauen, dass ein Foto etwas wahrheitsgetreu wiedergibt. Dazu muss man nicht Roland Barthes Klassiker von 1980 gelesen haben, „Die helle Kammer“. Barthes sah in einem Foto noch den abbildhaften Realitätsbeweis eines verbindlich „so Gewesenen“. Heute kann jeder mit der Software des Smartphones seine Schnappschüsse so zurichten, wie er sie gerne hätte.
Aber auch in früheren Zeiten kannte die Fotografie die manipulative Retusche und die politische Zensur. Leo Trotzki als Gegenspieler Stalins war ein prominentes Opfer dieser Art des Bildersturms. Im alltagskulturellen Kontext galt der Eifer eher der Dramatisierung eines Geschehens: So versinkt der 1902 auf dem venezianischen Markusplatz kollabierende Campanile in einer gigantischen Staubwolke – penibel hineinretuschiert. Der eigentliche Vorgang hatte sich Tage vorher ereignet.
Sigmar Polke erlaubt sich einen Jux
Diese narrative Qualität der Fotografie, nun aber als künstlerisch definierte Auslegung, thematisiert eine Ausstellung im Braunschweiger Fotomuseum. Sie richtet ein Augenmerk auf fotografische Ergebnisse als Bestandteil einer jenseits des Bildes begonnenen oder fortgeführten Erzählung.
Ein Meister dieses Genres war Sigmar Polke (1941-2010), sicherlich kein Fotograf im orthodoxen Sinne der Disziplin. Zwei Abzüge aus dem Besitz des Museums zeigen einen Eimer mit Seifenlauge, in dem Lineale und ein Zeichendreieck darauf warten, gesäubert zu werden.
Diese Prozedur wurde nach einer nächtlichen Sauftour notwendig: Polke hatte einem Gastgeber, der mit Radierungen „Kohle machen“ wollte, den Inhalt der Kohlenschütte in den Grafikschrank gekippt. Die reuevolle bis rituelle Reinigung der nun durch ihn künstlerisch auratisierten Grafiken nutzte er am nächsten Tag zu der siebenteiligen, etwas schummrigen Serie „Die Waschung der Lineale“. So entstand zumindest humoristische Fotografie.
Die vier weiteren jüngeren TeilnehmerInnen der Ausstellung bleiben seriös. Louisa Clement aus Bonn, geboren 1987, greift zum Smartphone, nimmt damit räumliche Situationen ins Visier, die vielleicht gerade verlassen werden. Wie Geister wirken die hellen Flächen und schmutzigen Ränder hinter abgehängten Bildern, ein Arrangement aus Chaiselongue und Matratze scheint auf den Abtransport zu warten. Durch die flüchtige, wenig brillante Bildqualität und die großen Formate ihrer Fotodrucke erzeugt Clement eine malerische Atmosphäre für ihre morbiden Sujets.
Eine Fotografie ist kein Beweisstück
Morbide sind auch die Arbeiten des US Amerikaners Curtis Anderson, Jahrgang 1956. Er fotografierte nach einem Brand in dem von ihm gemeinsam mit der Künstlerin Rosemarie Trockel bewohnten Haus die Schäden und Spuren. Die bewusst klein gewählten Formate konzentrieren sich auf rätselhafte grafische Strukturen, die an Abplatzungen oder in der Hitze zersprungene Materialien denken lassen.
Der Titel „no smoking gun“ spielt mit der vermeintlichen Evidenz der Fotografie: ein „rauchendes Gewehr“ ist im Englischen der Begriff für ein Beweisstück. Die Fotografien aber können und vor allem: wollen nichts beweisen.
Mit Feuer und Löscheinsätzen geht es bei Anna Vogel, Jahrgang 1981, weiter. Die Schülerin von Thomas Ruff und Andreas Gursky scheint sich von der steifen Monumentalität ihrer Mentoren emanzipiert zu haben. Sie verwendet Nachrichtenbilder, die sie inhaltlich und farblich manipuliert. Sie entfernt etwa Löschflugzeuge, stellt deren voluminös zerstäubende Wasser- oder Pulverwolken somit frei und taucht sie als mysteriöse Himmelserscheinungen in dramatische Farben.
Gradlinig, heroisch: so zeigt der zweite US Amerikaner Owen Gump, geboren 1982, karge Landschaften, in die der Mensch einst mit Eisenbahnen oder militärischen Testgeländen hart eingegriffen hatte. Die Natur erobert sich nun ihr Terrain zurück. Das ist die elementarste und wohl stärkste Erzählung der fotografischen Gruppenschau.
Jenseits des Sichtbaren. Fotografische Erzählung als Spur: bis zum 8. April 2018, Museum für Photographie Braunschweig
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