piwik no script img

Postmortale Director’s Cuts

Die Reihe „Lost Films Found“ bringt verschüttete Originalversionen der Filmgeschichte restauriert und in ganzer Pracht und Länge wieder auf die Leinwand

„Die Kommissarin“ wurde direkt nach der Fertigstellung als „antisowjetisch“ verboten Foto: Arsenal

Von Andreas Hartmann

Irgendwann vielleicht findet sich bei der Inventur eines chinesischen Kinos eine verstaubte DVD, auf der Ridley Scotts demnächst bei uns anlaufender Film „Alles Geld der Welt“ in seiner ursprünglichen Originalfassung enthalten ist. Nicht mit Christopher Plummer in der Rolle des Ölmagnaten Jean Paul Getty, sondern mit Kevin Spacey, dessen Szenen von Ridley Scott komplett ersetzt wurden nach den Vorwürfen mehrerer Männer, von Spacey sexuell belästigt worden zu sein. Filmwissenschaftler werden dann die verloren geglaubte Ursprungs- mit der Kinofassung vergleichen und vielleicht zu dem Ergebnis kommen, dass die Version mit Spacey eigentlich die bessere ist. Vielleicht entpuppen sich die Vorwürfe gegen Spacey eines Tages sogar als haltlos, der Schauspieler wird rehabilitiert und „Alles Geld der Welt“ kommt noch einmal mit ihm neu in die Kinos.

Wirklich ungewöhnlich wäre eine derartige Produktions- und Rezeptionsgeschichte von „Alles Geld der Welt“ jedenfalls nicht. Es gibt zig solcher Filme, die aus den unterschiedlichsten Gründen in von den Originalversionen abweichenden Fassungen ins Kino kamen und dann von Filminstituten mühevoll rekonstruiert wurden. Manche Filme gelten gar als ganz verschollen oder sind nur in Fragmenten erhalten.

In der Reihe „Lost Films Found“ im Kino Arsenal werden nun acht solcher Filme gezeigt, bei denen die Geschichte ihrer Neuentdeckung und Rekonstruktion kaum weniger interessant ist als die Werke selbst. Schier unglaublich hört sich beispielsweise an, wie Fritz Langs Stummfilm „Metropolis“ jahrzehntelang Filmhistoriker in aller Welt beschäftigte, die den Film wieder in seiner Ursprungsfassung aus dem Jahr 1927 zugänglich machen wollten. Der längst als Meisterwerk des deutschen Expressionismus und des Science-Fiction-Films gefeierte Streifen war erst einmal ein Flop, als er damals in die Kinos kam. Kurzerhand kürzte man gut eine halbe Stunde des Films weg, um ihn in einer vermeintlich für das Publikum zugänglicheren Version noch einmal zu zeigen. Die für überflüssig gehaltenen Szenen, von denen man heute weiß, dass sie entschieden zum Verständnis von Fritz Langs Film beitragen, wurden schlichtweg vernichtet. Sie galten als verschollen, bis sie 2008 überraschenderweise in einem Filmarchiv in Buenos Aires wiederentdeckt wurden. Das Arsenal zeigt „Metropolis“ nun wieder in seiner ganzen Pracht und Länge (15. und 27. 2.), wobei als Wermutstropfen bleibt: 8 Minuten fehlen von dem Film noch immer.

Jeder der wiedergefundenen Filme, denen sich das Arsenal in seiner Reihe widmet, hat dabei eine ganz individuelle Rezeptionsodyssee hinter sich. Der längst als Klassiker angesehene Film „Die Kommissarin“ (13. 2.) von Alexander Askoldow, der gezeigt wird, wurde nach dessen Entstehung 1967 als „antisowjetisch“ eingestuft und landete komplett im Giftschrank, eher er zwanzig Jahre später in Moskau uraufgeführt werden durfte. Orson Welles dagegen hätte am liebsten selbst die Version seines berühmten Film Noirs „Touch of Evil“ von 1958 verbieten lassen, die seine Produktionsfirma in die Kinos brachte, so wenig einverstanden war er mit den Schnitten und Kürzungen, die ohne sein Einverständnis an dem Film vorgenommen wurden. Heute gibt es eine Version von „Touch of Evil“, die in den Neunzigern in zäher Tüftelarbeit mit Hilfe von Welles’ Aufzeichnungen zu seinem Film entstanden ist, als eine Art postmortaler Director’s Cut (10. und 15. 2.).

Filme verschwinden oder verändern sich aber nicht nur aus kommerziellen Erwägungen oder politischen Gründen. In der Anfangsära des Kinos, in der Stummfilmzeit, bestand das Filmmaterial aus Zellulosenitrat, das sich mit der Zeit einfach zersetzte. Auch ein historischer Wert wurde damals in Filmen oft nicht gesehen, nach dem Ende der Stummfilmära wurden viele alte Streifen einfach zerstört. Es wird geschätzt, dass ein Großteil der alten Stummfilme schlichtweg vernichtet wurde.

Da ist es kein Wunder, dass bei „Lost Films Found“ die Filmkompilation „Lyrisch Nitraat“ (Niederlande 1991, 9. und 14. 2.) von Peter Delpeut wie ein echtes Schatzkästchen des verloren geglaubten Films wirkt. Auf dem Dachboden eines Amsterdamer Kinos wurden die alten Nitratfilme, die hier zu sehen sind, einst entdeckt. Die Zusammenstellung ist sicherlich eher ein Vergnügen für filmhistorisch interessierte Feinschmecker, aber doch auch für den Laien einigermaßen faszinierend. Ein Schiffbrüchiger auf einem Floß, ein Insektenkopf, Alltagsszenen, solche Ausschnitte aus Filmen, die 1905 bis 1915 entstanden sind, laufen hier. Bilder, die nur aufgrund glücklicher Umstände überhaupt noch zu sehen sind.

Lost Films Found: bis zum 27. 2. im Kino Arsenal, www.arsenal-berlin.de

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen