berliner szenen: In Zeitlupe am Boxi-Boden
Das Gedränge auf dem Flohmarkt auf dem Boxhagener Platz war so groß, dass es nur schrittweise voranging. Da Sonntag war und keine Eile geboten, ließ ich mich treiben inmitten all der in- und ausländischen Flohmarktbesucher. Die Fortbewegung im Zeitlupentempo erlaubte es mir, die Menschen um mich herum besonders gründlich wahrzunehmen. Aus Angst, jemandem auf den Fuß zu treten oder einem Hund auf den Schwanz, heftete ich meine Blicke nicht wie sonst auf die Stände rechts und links mit den Büchern, Kleidern, Taschen, Antiquitäten und selbst hergestellten Dingen, sondern auf den Boden. Das eröffnete mir ganz neue Perspektiven. Berlin von unten, sozusagen.
Ich sah viele abgetretene und ungeputzte Schuhe, aber auch teure Modelle, die gut gepflegt waren. Die Vielzahl der Hunde, die zwischen den menschlichen Füßen Platz fanden, entsprach in etwa der Zahl der Kinderwagen, die von jungen Eltern durch das Gedränge geschoben wurden. Ich sah X- und O-Beine, schlanke und dicke Extremitäten, und dann erblickte ich, als ich nach oben schaute, gleich zwei Dinge an einer Person, die meine Aufmerksamkeit erregten. Ein fast zwei Meter großer Mann um die 60, der einen alten Anzug und einen abgewetzten Hut trug, hatte den gesamten Nacken komplett schwarz tätowiert.
Ich fragte mich, wie lange es gedauert hat, all die Quadratzentimeter mit schwarzer Tinte zu füllen, und wie schmerzhaft das gewesen sein muss, und ob die Farbe ihn nun davor schützte, einen sichtbar schmutzigen Hals zu bekommen. Als ich mich an dieser Art der Selbstverwirklichung sattgesehen hatte, ging mein Blick zu der ausgebeulten Hebammentasche, die der Mann mit sich trug. Diese zierte an diesem Herbstsonntag ein nicht ganz zur Jahreszeit passender Aufkleber: „Das Sommerloch ficken“. Barbara Bollwahn
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen