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Zwiespältige Begegnungen

Kunst Das Gewöhnliche eben, das nicht das Besondere sein will, macht eine Stärke der Radierungen von Lucien Freud aus. 51 davon, ergänzt durch ein Aquarell und zwei Gemälde, sind im Martin-Gropius-Bau zu sehen

Lucian Freud: The Painter’s Mother, Radierung von 1982 Foto: F.: The Lucian Freud Archive/ Bridgeman Images UBS Art Collection

von Katrin Bettina Müller

Fast jeder kennt so eine Situation. Man kommt auf eine Party, kennt niemanden außer dem viel gefragten Gastgeber, und schaut sich vorsichtig um. Mit wem könnte man einfach ins Gespräch gekommen?

Mit diesem jungen Mädchen da hinten, das nicht still sitzen kann, schwitzt und schon nervös wird unter der Beobachtung? Sieht man nicht ihre Gedanken hin und her flitzen, überall unterwegs, nur nicht hier vor Ort? Hmm, eher schwierig. Oder mit der älteren Frau, zwar am Rand stehend, aber doch sehr präsent, die mit einer gewissen Autorität jeden Ankommenden mustert? Vorsicht, ihre Fragen stellt man sich schnell beharrlich und bohrend vor. Vielleicht die mittelalte Frau, die als Susanna vorgestellt wird, ja, die leicht bittere Linie um ihren Mund lässt schon vermuten, dass sich mit ihr gut über Enttäuschungen reden lässt. Lustig wird das eher nicht. Aber unterhaltsam ist es vielleicht, einfach neben Lord Goodman abzuwarten, was passiert. Kurzatmig und schwer geworden von vielen Genüssen, auch dem Alkohol, so sieht er zwar aus, aber auch wie jemand, der voll von Geschichten, Anekdoten und Geheimnissen steckt.

Aber das alles bleibt Fiktion. Denn die Beschriebenen sind auf keiner Party, sondern stecken ihre Köpfe zusammen in der Ausstellung „Closer“, die Radierungen von Lucian Freud im Martin-Gropius-Bau zeigt. Man geht an den Wänden entlang, vertieft sich in manche Gesichter, überspringt andere, und bevor man über Freuds Kunst und darüber, was das Besondere seiner Radierungen ausmacht, nachdenkt, da hat es einen schon gepackt, dieses Besondere. Weil man sich gleich ins Verhältnis gesetzt fühlt mit den Dargestellten. Und die zwiespältigen und verunsichernden Begegnungen dabei einen genauso starken Eindruck hinterlassen wie die vertrauensvollen.

Die Kupferplatten, in die er seine Radierungen mit der Nadel kratzte, soll Lucian Freud kaum anders als die Leinwände für seine Porträts auf einer Staffelei aufgebaut haben im Atelier, dem Zentrum seines Lebens und seiner Kunst. Dorthin kamen auch alle seine Modelle, oft monatelang. Vor ein paar Jahren erschien ein Buch von Martin Gayford, „Mann mit blauem Schal. Ich saß Lucian Freud. Ein Tagebuch“, das die Zeit der Porträtsitzungen, 150 Stunden, wieder überführt in erzählbare Zeit: von Freuds scharfzüngigen Streifzügen durch die Kunst und das Leben, was Gayford sich denkt und wie er sich fühlt unter der Beobachtung und wie nach und nach die Geschichte des Künstlers, zum Beispiel seine frühe Schwäche für die Milieus von Underdogs, in den Raum einfließt, in dem die beiden zusammenkommen.

Es hilft, sich vorzustellen, dass jede Radierung auch solch geronnene Zeit darstellt. Dass jede der vielen feinen Linien, die zu Flächen und Körpern zusammenwachsen, gegen den Widerstand des Metalls gearbeitet wurde.

Dass die Modelle sich dem Warten aussetzen, der Ungeduld, der Beobachtung, der Selbstvergessenheit. Was ihnen hier allerdings nicht abverlangt wird, ist Selbstdarstellung: keine Statusanzeige, keine Berufsangabe, keine soziale Milieuzuordnung, keine typische Haltung. Von all dem absehen zu können, hat heute noch mehr als in den Zeiten der Entstehung der meisten Radierungen in den 1980er Jahren, etwas Beneidenswertes.

Dass er auf die soziale und kulturelle Einordnung der Porträtierten und der in Aktbildern Dargestellten verzichtete, hat Freud den Ruf eingetragen, auf etwas universell Menschliches zu setzen, wie die Verletzbarkeit des Menschen, die Sterblichkeit des Fleisches. Aber es sind doch sehr genau ausgewählte Körper und Persönlichkeiten, beredte Gesichter und Glieder, stark genug, sich in der herausfordernden Begegnung im Atelier eben nicht zum Affen zu machen.

Das Gewöhnliche eben, das nicht das Besondere sein will, erweist sich in seinen Bildern als genau das, was allen Menschen darin eine erstaunliche Unabhängigkeit verleiht. So wie der Künstler selbst Unabhängigkeit bewies, in dem er sich um den Diskurs nicht scherte, der behauptete, dass vor allem die Abstraktion malerische Freiheit bringe und die Bindung an den Gegenstand anachronistische Konzepte der Repräsentation bediene. Dass es auch anders geht, beweisen seine Bilder.

Die Radierungen in der Ausstellung, Porträts, Akte und von Pluto, einem Hund des Malers, stammen alle aus einer Sammlung, der UBS (Union Bank Swiss) Art Collection, für die sich Schweizer Banken mit amerikanischen Unternehmen zusammengeschlossen haben. Die meisten von Freuds Radierungen entstanden, als er als Maler schon einen großen Erfolg hatte. Die Modelle aber blieben die Menschen, die er auch zuvor schon am liebsten im Atelier vor sich hatte.

Bis 22. Oktober, Martin-Gro­pius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, Mi.–Mo. 10–19 Uhr, Katalog 35 Euro

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