Sag mir, wo die Wildkräuter sind

DSCHUNGEL Einst entfaltete sich am Gleisdreieck ein Paradies, in dem sich die Füchse „Gute Nacht!“ wünschten. Heute ist dort monokulturelle Rollrasenlangeweile. Einige Beobachtungen zur modernen Parkgestaltung

Nirgends gab es alle Jahre einen schöneren nächtlichen Sommerbrand als hier

VON BÄRBEL JÄSCHKE

Mensch, ärgere dich nicht über die fantasielosen Frischluftschneisendesigner! Grolle nicht über die schnurgeraden Betonpisten, die Quadratur der Rollrasenlangeweile, die unbeschatteten Sitzpritschen neben den Rennstrecken für geräderte Zeitgenossen mit Drahteseln, Rollbrettern, Rollschuhen, Elektrorollstühlen und Stehrollern. Vergiss deinen Zorn über die Rodung von einem halben Tausend alter Wildwuchsbäume zugunsten einer schmächtigen, genormten Tausendschaft aus irgendeiner monokulturellen Stangengärtnerei. Gräm dich nicht, dass dir seit der Beseitigung des Unterholzes entlang deiner Wohnstraße im Gleisdreieckpark die Füchse nicht mehr „Gute Nacht!“ wünschen.

Noch ist nicht aller Tage Abend. So wie er gegenwärtig ist, so bleibt er nicht; dieser zur Eröffnung vor einem Jahr von den verantwortlichen Grünplanern selbstlobbehudelte, nicht alltägliche, großzügige Freiraum für Spiel, Erholung und Kommunikation unweit des Potsdamer Platzes. Denn Spaziergänger, Walker und Jogger werden die Rasenflächen den harten Betonpisten vorziehen. Es gibt in diesem Park gegenwärtig keine Schilder, die das Betreten der Rollrasenfelder verbieten, und auch keine Tiergartengitter als Fußangeln. Aus dem künstlichen Geröllfeld nahe der Fernbahntrasse, über dem gen Schöneberg die Abendsonne fernwehsüchtiges Alpenglühen simuliert, wird bald frische, wilde Flora wachsen.

Sie wird an den Dschungel inmitten des steinernen Berlin erinnern, der sich vier Jahrzehnte lang ungestört entfalten konnte auf dem Gelände des stillgelegten Anhalter und Potsdamer Güterbahnhofs. War das hier früher ein Paradies für ungestörte Entfaltung wilder Natur? Ach, das ist Erinnerungsverweigerung besonnter Wunschvergangenheit. Sie ist getrübt durch den Blick auf das uniforme Gründesign der Gegenwart. Darf ich erzählen?

Nirgends gab es alle Jahre einen schöneren nächtlichen Sommerbrand als hier! Heinrich von Kleist hätte ihn in seinen Berliner Abendblättern glühend geschildert. Palettenlager, Reifenlager, Kohlenlager, alte Schuppen voll mit Ich-weiß-nicht-was – es brannte lichterloh, stundenlang. Das Leuchten des rotierenden Mercedessterns auf dem Europacenter war nicht mehr sichtbar hinter der dicken Rauchwand. Merkwürdigkeit am Rande: Die kleine „Freie Tankstelle“ an der Möckernstraße, Höhe Hornstraße, brannte nie. Sie verschwand erst, als die Abrissbagger zugunsten der Gestaltung des Gleisdreieckparks kamen.

Wie kam es zu diesen Bränden? Selbstentzündung der Lagerstätten in der Hochsommerhitze? Brandstiftung aus versicherungstechnischen Gründen? Ein lukratives Feuerwerk auf unbewohnter Brache Monate vor Silvester? Eine passendere historisch authentisch wirkende Location hätte die Kreuzbergerin Helma Sanders-Brahms kurze Zeit nach dem Ende der Brandserien wohl kaum finden können für ihre Drehs zu „Deutschland, bleiche Mutter“, dessen Protagonistin Anna durch die Trümmer des Nachkriegsberlin streift.

Unter dem Dschungelboden entlang der verrosteten Gleise entdeckte der Künstler Raffael Rheinsberg sein „Troja“: dickwandiges weißes Geschirr der „Mitteleuropäischen Schlaf- und Speisewagen Aktiengesellschaft“, kurz Mitropa. Diese hatte am Neujahrstag 1917 das Monopol zum Betrieb von Speise- und Schlafwagen in Deutschland, Österreich und Ungarn erworben. Bis 1945 – über Kriegs,- Nachkriegs- Vorkriegs- und Kriegszeiten hinweg – präsentierte sie stolz auf ihren Siebensachen das vom Berliner Grafiker Karl Schulpig gestaltete Logo: einen konstruktivistisch stilisierten Adler, dessen Schwingen und Schweif sich zu einem M formen, das über einem Rad mit vier Speichen schwebt. „Ruine oder Tempel“ nannte Raffael Rheinsberg mit Verweis auf die Ruine des Anhalter Bahnhofs seine Ausstellung der Grabungsfunde.

Der Künstler berief sich auch auf das „Bekenntnis zum Gleisdreieck“ des österreichischen Schriftstellers Joseph Roth. Dieser hatte im Sommer 1924 als Berlinkorrespondent für die Frankfurter Zeitung den Ort ambivalent beschworen als „großartigen Tempel der Technik unter freiem Himmel“; als „phantastisches Produkt einer Zukunft verheißenden Gewalt“. Gewalt? Am Ende seiner Confession verkündet dieser Seher: „So ein Gleisdreieck wird die zukünftige Welt sein.“ Die Erde erlebe eine neue Umformung „nach konstruktiven, bewussten, aber nicht weniger elementaren Gesetzen“. Vor rund neunzig Jahren erinnerte dieser Prophet an heute: „Schüchtern und verstaubt werden die zukünftigen Gräser zwischen metallenen Schwellen blühen. Die ‚Landschaft‘ bekommt eine eiserne Maske.“

Dabei hätte Roth im „Tempel der Technik unter freiem Himmel“ auch das Dschungelparadies wilder mediterraner Samenpassagiere wahrnehmen können: Hundertschaften von nichtpreußischen Immigranten.

2006 hatte die nordamerikanische Künstlerin und Umweltforscherin Alexandra Toland im Rahmen des Studienprojektes der Technischen Universität Berlin „Bodenkunst auf Brachflächen“ 150 goldgerahmte Schilder für ihre „Galerie der Wildkräuter“ auf dem Gelände aufgestellt. Zu der lateinischen botanischen Bezeichnung mit Fotos der gefundenen Pflanzen, ihrer Herkunft, ihrer Familie, ihrer Verbreitung und ihren Besonderheiten waren auf den Rahmen ihre Namen auf Deutsch, Englisch, Französisch, Türkisch, Polnisch und Bosnisch zu lesen. Darunter etwa die Knoblauchsrauke, früher als Gewürz und Heilpflanze genutzt, sie wirkt antiseptisch, leicht harntreibend und schleimlösend, oder der Beifuß, einst gegen Epilepsie und als sehr wirksames Mittel gegen Hexerei verabreicht.

Sag mir, wo die Wildkräuter sind! Sie hatten zwei Weltkriege überlebt, die Unkrautvernichtungsaktionen der Deutschen Reichsbahn von 1945 bis 1993 – und auch die Zeit, als dieser Ort Materiallager war für den Bau des Tiergartentunnels. Damals sah er aus wie der Westwall, hochgestapelt auf einem Feld von rund 30 Hektar.

Nein, nun nichts mehr dazu! Was tun? Vielleicht das, was der Ingenieur, Dichter und Flaneur Heinrich Seidel von 1870 bis 1880 getan hat, als er noch Am Karlsbad 11 wohnte. Der Konstrukteur der Yorckbrücken und der Halle des Anhalter Bahnhofs ging nämlich nie ohne Samentütchen aus dem Haus. Allzu gern streute er die Körnchen des hellvioletten Mauer-Zimbelkrauts in die Risse und Wunden des versteinerten Berlin.

Für Samenbomben ist himmlisch viel Platz in der „Frischluftschneise“.