Treffen der Kopfarbeiter

Aussehen Chirurgen, GeisteswissenschaftlerInnen und Kulturschaffende widmen sich auf einer Tagung dem Thema „Schädel“

Der Neurochirurg Ernst-Johannes Haberl operiert an neugeborenen Babys, die mit einer Schädeldeformation auf die Welt kommen, und spürt dabei einen Konflikt. „Niemand weiß, wie diese Kinder ausgesehen hätten, wenn sie ohne Deformation geboren wären“, so Haberl. Es gibt keine Vorlage wie etwa bei Menschen, die durch einen Unfall verunstaltet wurden. „Wir konstruieren neu“.

Dabei fühlt sich Haberl unwohl. Denn seine Eingriffe werden nicht nur von seinem fachlichen Wissen geleitet, sondern auch durch seine eigene, subjektive Vorstellung von Ästhetik. Aber wie soll er sich sicher sein, dass er richtig gestaltet?

In der Fachliteratur findet der Chirurg keine Antwort: „Sobald es darum geht, das visuelle Ziel solch einer Operation in Worte zu fassen, bleiben die Formulierungen äußerst vage“. Die Wissenschaft der vorigen Jahrhunderte hat einiges an verbrannter Erde hinterlassen, was die Beschreibung einer idealen Kopfform betrifft. Folgerichtig traut sich heute keiner mehr, sich zu dem Thema konkret zu äußern, obwohl tagtäglich operiert wird.

Auch über das Befinden von nicht-operierten Kindern gibt es aus seinem Fachbereich bis dato kaum Studien. Mit ähnlichen Themen, wie beispielsweise der psychosozialen Entwicklung von Menschen mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, setzt sich die Geisteswissenschaft bereits eifrig auseinander. Ein Treffen mit den KollegInnen könnte aufschlussreich sein, dachte sich Haberl, und legte seine Idee dem Zentrum für Literatur und Kulturforschung Berlin vor. Am Wochenende fand nun die erste gemeinsame Tagung unter dem Motto „culture meets surgery“ – „Kultur trifft Chirurgie“ – statt.

Über die Einladung zur Tagung hat sich der Charakter-Designer Matt Jones gewundert, gibt er zu. Doch tatsächlich setzt sich der Zeichner des US-amerikanischen Trickfilmstudios Pixar täglich mit Schädelformen und deren Gestaltung auseinander. Dem Fachpublikum berichtet er, wie man durch simple Asymmetrie des Gesichtes den obligatorischen Cartoon-Bösewicht noch böser wirken lässt.

Dass Schönheit der Schlüssel zu Glück und Erfolg sei, gelte heute schon fast als Konsens, berichtet Nichola Rumsey, Psychologieprofessorin am weltweit einzigen Forschungsinstitut für Aussehen in Bristol. Immer mehr junge Menschen überlegen, sich unters Skalpell zu legen, berichtet sie, und verortet die Ursachen bei einem Mix aus Märchen, Medien, sozialen Netzwerken und Photoshop.

Einfach platt gedrückt

Der Kinderneurochirurg James T. Goodrich hingegen erklärt den eigenen Berufsstand zum zweitältesten der Welt. Und tatsächlich: Schädelmanipulationen wurden von Mittel- und Südamerika, über Afrika, Mesopotamien und Ägypten bis hin zu den Inseln der Südsee schon vor tausenden Jahren vorgenommen. Abhängig von den ästhetischen Idealvorstellungen der Kulturen wurden weiche Säuglingsschädel mittels Bandagen turmartig verformt, platt gedrückt oder länglich verzogen.

Die Professorin für Gender-Studies Rosemarie Garland-Thomson mahnt, dass die heutigen Schönheitsstandards immer einheitlicher würden. Doch sie stellt auch fest: Unsere westliche Gesellschaft ist heute so vielfältig wie nie zuvor. Zudem wurde der öffentliche Raum in den letzten 30 Jahren rasant umgestaltet, so dass zunehmend auch Menschen mit Behinderungen das tägliche Stadtbild prägen.

Ihr Vortrag entfacht ein Gespräch über Recht und Unrecht des chirurgischen Eingriffs an Kindern, und ob man ihnen dadurch ihre Entwicklung erleichtert, erschwert oder gar diktiert. Haberl freut sich darüber. Es war ihm zwar klar, dass am Ende der Tagung kein „Kochbuch“ zur Verfügung stehen würde. Aber der Grundstein zur Auseinandersetzung sei zumindest gelegt worden. Elise Graton