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Berliner SzenenKleidersammlung

Bei der Schneiderin

Sie lächelt, als ich die Tür hinter mir schließe

„Kleid abholen“, steht auf dem Aufgabenzettel, den mir Melanie für den heutigen Tag geschrieben hat. Dahinter ein Ausrufezeichen. Ich hatte es schon vor zwei Wochen zu unserer vietnamesischen Schneiderin gebracht, mich aber vorm Abholen gedrückt. Denn die renoviert ihren Laden und sortiert bei dieser Gelegenheit aus. Die letzten fünf Male verließ ich ihr Geschäft mit einer Tüte alter Kinderklamotten, wohl wissend, dass Hannah und Max die nie im Leben tragen würden. Weil sie ihnen nicht gefielen und weil sie bekleidungstechnisch überversorgt waren. Ich traute mich aber nicht, die Sachen abzulehnen. Schließlich war ich schon lange Kunde. Und hatte Angst, unsere Beziehung zu belasten. So brachte ich die Sachen zur Kleidersammlung.

Melanie hat nun aber einen wichtigen Termin und benötigt ihr Kleid. Aufschub nicht gestattet. Vielleicht habe ich Glück, die Renovierung ist abgeschlossen und ich werde nicht mit weiteren Gaben bedacht. Tatsächlich ist sie fertig, stelle ich erleichtert beim Betreten des Ladens fest. Sie hat sogar umgebaut. Während die Schneiderin ihren Arbeitsplatz vorher direkt neben dem Eingang hatte, sitzt sie nun hinter einem hölzernen Verkaufstresen. Sie lächelt, als ich die Tür hinter mir schließe, erhebt sich und beginnt, nach Melanies Kleid zu suchen. Sie hat die neue Ordnung noch nicht verinnerlicht und braucht viel länger als vorher, als noch Chaos herrschte. Schließlich findet sie es doch.

Ich zahle und will gehen, doch sie bedeutet mir, zu warten. Sie bückt sich und holt eine Tüte unterm Verkaufstisch hervor. Ich nehme all meinen Mut zusammen und schüttle höflich den Kopf. „Wir haben genug.“ Sie insistiert: „Kleidersammlung.“ Mein Widerstand ist schon gebrochen. Seufzend nehme ich den Plastiksack entgegen und verlasse den Laden.

Stephan Serin

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