Wo das Glück bleibt

Kleine Perspektiven statt großer Fluchten und romantische Überschreitungen in der alltäglichen Konfusion: „Das Fenster gegenüber“, der neue Film des italienisch-türkischen Regisseurs Ferzan Özpetec

Ferzan Özpetec, ein italienischer Regisseur mit türkischen Wurzeln, liebt romantische Überschreitungen, die versöhnlich in die alltägliche Konfusion hineinwirken. In seinem Erstling „Hamam“ erbt ein junger frustrierter Italiener ein Haus in Istanbul, baut gegen viele Widerstände das darin verborgene türkische Bad wieder auf und findet seine schwule Identität. Auch Özpetecs neuer Film, in Rom angesiedelt und 2003 ein italienischer Kinohit, fragt, wo das Glück bleibt – dieses Mal in einer Geschichte, in der Familienstress und Arbeitsrealität über der Protagonistin Giovanna zusammenschlagen. Und wieder erscheint ein schwuler Mann als subtile Erlöserfigur.

Blicke in Großaufnahme und unverhoffte Begegnungen, wie Fußgänger sie haben, sind Özpetecs liebste Erzählmittel. Auch die für ihn typische lebenskluge Nachbarin fehlt nicht, wenn es darum geht, der Geschichte Tempo zu geben und der Antiheldin zum Seitensprung zu raten. Wieder werden alte Gassen und betagte Wohnblöcke zu Orten der Sehnsucht, an denen die Erinnerung der Alten die Zukunft der Jungen in eine neue Richtung lenkt. Der Film hat keine Angst vor Kitsch, will Gefühlskino à la „Brot und Tulpen“ sein, eher angelehnt an „Chocolat“ als an die Farcen von Lina Wertmüller.

Eine historische und eine aktuelle Liebesgeschichte werden assoziativ miteinander verknüpft, wobei die heroische Tragik der alten Geschichte veredelnden Glanz an die Gefühlsentwicklung der Jetzt-Menschen abgibt. Ein alter Mann (Massimo Girotti), römischer Jude und KZ-Deportierter, erinnert sich an seinen verlorenen Geliebten und daran, wie er in einer Nacht durch eine Bluttat erreichte, dass viele Juden vor einer bevorstehenden Terroraktion der Nazis gewarnt wurden. Eine junge Frau (Giovanna Mezzogiorno), in Ehepalaver und Arbeitsstress verstrickte Römerin, beginnt in der Zeit, in der der Alte in ihr Leben tritt, eine zweite Geschichte: Sie lebt einen romantischen Seitensprung aus, eine heimliche Sehnsucht, die sie mit ihrem Nachbarn (Raoul Bova), dem Mann hinter dem „Fenster gegenüber“, verbindet.

Giovanna, Ende zwanzig, Buchhalterin in einer Geflügelfabrik und Tortenbäckerin im Zweitberuf, streitet mit Filippo (Filippo Nigro, ein bemerkenswertes Bruce-Willis-Double) und stützt sich auf den Mutterwitz ihrer Nachbarin Eminé (Serra Yilmaz). In diesen Szenen wird der Film zur Migrantenkomödie, in Szenen mit Giovannas und Filippos Großstadtgören zum durchgedrehten Familienfilm – wären da nicht viele melancholische Close-up-Blicke.

Massimo Girotti, vor sechzig Jahren der tragisch Verstrickte in Viscontis „Ossessione“, hatte in „Das Fenster gegenüber“ den letzten Leinwandauftritt. Noch vor der Premiere starb er, der Film ist ihm gewidmet. Seine Nonchalance vor der Kamera allein lohnt schon den Kinobesuch. Girotti, ein hoch gewachsener Greis, der im Gegensatz zu seinen jungen SchauspielkollegInnen das Understatement beherrscht, spielt einen burlesken Engel der Geschichte. Er ist ein Mann ohne Gedächtnis, der von den Furien seiner Erinnerung heimgesucht wird. Von dem streitenden Ehepaar aufgelesen, verbringt er ein paar Tage mit der Familie. Momente der Verwirrung wechseln mit plötzlicher Präsenz, sodass die zunehmend faszinierte Giovanna Anhaltspunkte für die Identität ihres Gastes zu finden hofft.

Lorenzo, der einsame Idealmann von gegenüber, entpuppt sich als der wahre Romantiker der Geschichte. Er gibt sich selbst als heimlicher Beobachter von Giovannas Fenster zu erkennen. Die Begegnung mit dem Alten hat sie zusammengeführt, jetzt versucht er, mit ihr zusammen das Rätsel des Alten zu lösen. Nicht zuletzt will er die Geliebte für sich. Welche Zukunft wählt Giovanna? Nur so viel: Der alte Mann wird ihr Lehrmeister in der Konditorkunst, ein Vermächtnis, mit dem der Film kleine Perspektiven statt großer Fluchten verbindet.CLAUDIA LENSSEN

„Das Fenster gegenüber“. Regie: Ferzan Özpetek, mit Massimo Girotti, Giovanna Mezzogiorno u. a., Italien/ England/ Türkei/Portugal 2003, 106 Min.