Kopfhörer im Schulunterricht: Hä?
Schule An vielen Grundschulen ist der Einsatz von Lärmschutzkopfhörern verbreitet – so sollen sich die Kinder besser konzentrieren können. Aber wo bleibt die Pädagogik?
Im Idealfall funktioniert das so: Während bestimmter „Lernsettings“, so der Fachbegriff, in denen einige SchülerInnen etwa Gruppenarbeit machen und andere still arbeiten, können sich lärmempfindlichere Kinder Kopfhörer nehmen, um nicht gestört zu werden. Die Grundschulreferentin in der Bremer Bildungsbehörde Nikola Schroth erklärt auf Nachfrage der taz: „Kopfhörer werden an Grundschulen schon lange eingesetzt, allerdings sehr vereinzelt: Vor allem Kinder, die besonders geräuschempfindlich sind“, so die Referentin, „können sich auf diese Weise auditiv abschotten, damit sie sich konzentrieren können.“ Nicht gedacht seien die Kopfhörer, im Grundschullehrer-Jargon „Micky-Mäuse“ genannt, hingegen dafür, „disziplinarische Schwierigkeiten abzufangen“.
Ein Vater aus Bremerhaven hat da andere Erfahrungen gemacht. Er möchte seinen Namen nicht in der Zeitung lesen, ist aber bereit, der taz vom Schulalltag seiner Tochter zu erzählen, wie sie es ihm berichtet hat: Sie besucht die zweite Klasse einer Bremerhavener Grundschule. Drei der 20 Kinder in der Klasse haben inklusionsgemäß besonderen Förderbedarf und stören häufig den Unterricht.
Die dort praktizierte Lösung: Alle Kinder, die sich von den Störenden beeinträchtigt fühlen, dürfen sich Kopfhörer nehmen. Dass 17 von 20 Kindern während des Unterrichts zeitweise aussehen wie kleine Bauarbeiter, weil es in der Klasse zu laut ist, findet der Vater „äußerst skurril“. So jedenfalls ist der Einsatz von Kopfhörern eigentlich nicht gedacht.
Auch Gerhart Tiesler vom Bremer Institut für interdisziplinäre Schulforschung sagt: „Ich würde die Kopfhörer als Krücke bezeichnen, wenn man gar nicht anders für ruhige Situationen sorgen kann.“ Tiesler ist Experte für die Akustik von Klassenräumen und attestiert den meisten Schulgebäuden eine „miserable“ Akustik.
Er empfiehlt den Einsatz von schallabsorbierenden Materialien und den Einbau von schalldämmenden Decken, was bei einem Neubau kaum teurer und bei fälligen Sanierungen der alten und akustisch problematischen Schulgebäuden leicht nachzurüsten sei – aber dennoch kaum gemacht wird. Oft werde er gefragt, so Tiesler, was denn vor 100 Jahren für den Schallschutz gesorgt habe. „Da antworte ich immer: Der Schallschutz war einen Meter lang und einen Zentimeter im Durchmesser.“
Gemeint ist der Rohstock. „Wir 68er wollten natürlich alles freier gestalten“, sagt Tiesler, doch die Räume seien dafür häufig nicht geeignet. Der heute so verbreitete Kopfhörer sei „einfach eine Hilfsmethode, die irgendjemand mal propagiert hat“. Tiesler sieht außer der nötigen akustischen Sanierung der Schulgebäude aber noch eine weitere Möglichkeit, um den Lärmpegel in Schulklassen deutlich spürbar zu senken – auch ohne dass sich die Kinder total abschotten müssen, um sich zu konzentrieren. „Man kann auch pädagogische Maßnahmen ergreifen, die den Geräuschpegel senken.“
Gerhart Tiesler vom Institut für
In mehreren Grundschulen, unter anderem in Bremen und in Münster, habe man gute Erfahrungen damit gemacht, in den ersten beiden Grundschulwochen ausschließlich ein Sozialverhaltenstraining durchzuführen. „Das wirkt Wunder, aber es setzt voraus, dass sich Lehrer und Schüler wirklich daran halten.“ Die Lernergebnisse seien durchweg besser, wenn die Kinder zum Anfang ihrer Schulzeit das Sozialverhalten in der Klasse trainieren. Denn: „Gerade Grundschulkinder müssen das Hören richtig lernen.“ Das setzt allerdings voraus, dass die Kinder überhaupt etwas hören. „Wenn man es überspitzt formuliert, sind solche Schallschutzkopfhörer dabei wirklich kontraproduktiv.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!