: Ein Segen, dass nichts wächst
Minimalistisch Hochleistungssport für eine Darstellerin: Dagmar Manzel spielt am Deutschen Theater eine großartige, herzergreifende Winnie in Samuel Becketts „Glücklichen Tagen“
von Katrin Bettina Müller
Es ist eigentlich eine grausame Versuchsanordnung, von der Samuel Beckett in seinem Drama „Glückliche Tage“ erzählt. Was bleibt vom Menschen, wenn man ihm alles nimmt, ihn an einem Fleck festpinnt wie ein Insekt? Was kann der Kopf noch denken, wenn die Bilder Tag für Tag die gleichen sind, wenn nichts mehr sich ändert, wenn die Zeit ihre Bedeutung verliert? Wenn die Welt der Dinge auf fünf oder sechs Gegenstände schrumpft, darunter ein Spiegel, ein Lippenstift und ein Browning? Wenn schließlich der Körper festgezurrt wird, begraben bis zum Kopf?
1960 schrieb Beckett den Monolog für Winnie, die in einem Sandhaufen steckende Frau. Der Zweite Weltkrieg, in dessen Verlauf sich Samuel Beckett der Resistance in Frankreich angeschlossen hatte, scheint nachzugellen in der Endzeitstimmung. Die Tabula rasa nach der Katastrophe, der Moment, in dem der Mensch sich neu erdenken muss, weil die tradierten Kategorien korrumpiert und beschädigt sind, man kann sie leicht in den Text hineinprojizieren. Und doch ruft er an keiner Stelle historische Bezüge auf. Das Feld bleibt weit und offen.
„Glückliche Tage“ ist aber auch ein Text über das Altern und die Wahrscheinlichkeit des Endes. Winnie ist eine tapfere Frau, die mit ihren Sätzen den Jammer niederhält. Sie zählt ihre Rituale auf, die der Dauer einen Rhythmus geben und eine Struktur. Sie feiert ein einzelnes wiedergefundenes Wort als Glück der Erkenntnis. Diese ständige Anrufung des Glücks ist das Erstaunliche des Stücks und birgt letztendlich den Zweifel: Ist Winnie der hochgradigen Beschränkung ihrer Möglichkeiten ausgesetzt durch Gewalten, für die wir uns jederzeit viele Entsprechungen denken können? Oder hat sie sich freiwillig in diese äußerste Reduktion hineinbegeben? Eine Komplexitätsflucht avant la lettre?
Im Deutschen Theater hat jetzt Christian Schwochow Becketts zurzeit wieder viel gespieltes Stück inszeniert. Christian Schwochow ist vor allem als Filmregisseur bekannt; im Kino kam letztes Jahr sein Film „Paula“ heraus, für den TV-Zweiteiler „Der Turm“ erhielt er den Grimme-Preis. Seine Winnie spielt Dagmar Manzel, auf einem Stuhl vor einer Spiegelwand sitzend. Durch eine Tür hört und sieht man manchmal ihren Gefährten Willie, der ganze 45 Worte in dem Stück hat, von dem aber auch nie sicher ist, ob er wirklich noch existiert oder von ihr nur als Zuhörer imaginiert ist.
Was soll man sagen? Natürlich ist Dagmar Manzel eine großartige, herzergreifende Winnie. Sie steckt für diesmal nicht in einem Sandhaufen, sondern sitzt vor einer Spiegelwand, dicht an der Rampe; ein enger Spielraum, künstlich gesetzt die Grenzen und die Regeln. Das Zittern, die Angst vor dem, was sie sich plappernd vom Leibe halten will, sitzt ganz dicht unter der Oberfläche. Auf ihrem akkurat geschnittenen kurzen blonden Haar klemmt ein winziges Hütchen, auf dem zitternde Fühler tanzen.
Und doch ist das ganze Spiel von der Unterdrückung der Panik mit einer Unaufgeregtheit grundiert und einem trockenen Humor, der sehr geerdet ist. Hingebungsvoll putzt sie Brille und Lupe, um endlich ein unkenntlich gewordenes Wort auf ihrer Zahnbürste zu lesen. Sie nimmt den Browning in ihrer Tasche zur Hand kaum anders als den Spiegel, manchmal verdutzt, manchmal mit einer kurzen Erinnerung an den Tag, als Willie sie bat, ihm den Revolver wegzunehmen.
Die Rolle der Winnie ist nicht zuletzt ein schauspielerisches Experiment; ihrem Körper ist die Bewegung genommen, Willie darf höchstens mal durchs Bild kriechen. Es gibt keine Bewegung, keine Handlung, Minimalismus und Konzentration pur. Es macht diesen Theaterklassiker aber nicht einfacher, dass er zu so etwas wie Hochleistungssport für eine Darstellerin, reduziert auf Stimme, Sprache, Mimik, geworden ist. Die Übung, in der ein Star alles Divenhafte von sich abstreifen muss, um zum nackten Erdenwurm zu werden, gewissermaßen.
Was das Seltsame des Stücks bleibt, rutscht dagegen in den Hintergrund. Etwa Winnies Angstausbrüche vor allem, was sich regt. Ein Insekt, eine Maus. Eine Lebensfeindlichkeit, die schließlich gipfelt in dem erleichterten Ausruf: „Was für ein Segen, dass nichts wächst!“ Diese sperrigen, widersprüchlichen Brocken Text wieder zu aktivieren, und von hier aus eine weitere Lesart des Textes zu öffnen, ist nicht so sehr die Sache dieser Inszenierung.
Wieder am 28. April, 3./11. + 19. Mai im Deutschen Theater
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen