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KaputtheitDie Freiheit des Scheiterns in ihrer letztmöglichen, sexy Form. „Big World“, Mary Millers KurzgeschichtensammlungVerdorbene Jugend

Drei Stellen aus diesem Buch zeigen, worum es geht und wie das klingt. Die ersten beiden stammen aus „Nicht alle, die wandern, sind verloren“, der letzten, schönsten, längsten Kurzgeschichte aus dieser Sammlung von Short Storys: „Ich habe Sex mit dem Manager, was meistens dazu führt, dass irgendjemand verärgert ist.“ Ein symptomatischer Satz. Ein guter Satz, nicht nur weil es in dem Satz um Sex geht. Sondern weil er einen Sound hat. Und dieser Sound trägt sich durch das ganze Buch.

Das Buch heißt „Big World“, im Deutschen wie im Englischen, und ist eigentlich Mary Millers Debüt. Ihr hiesiger Verlag allerdings hatte – Erzählungen verkaufen sich in Deutschland ja so schlecht – ihren Roman vorgezogen. Der heißt „Süßer König Jesus“ und erschien auf Deutsch bereits 2013, interessanterweise aber ein Jahr früher als in den USA. Die vorliegende Sammlung wiederum kam in den Staaten bereits 2009 heraus.

Miller, inzwischen fast 40, schreibt ihre Short Storys hauptsächlich aus der Ichperspektive; und ihre Erzählerinnen sind meist junge Frauen im Alter zwischen 15 und vielleicht 30: White Trash Girls. Mary Miller ist wie ihre Kollegin Elizabeth Ellen eine der neuen, jungen, weiblichen Stimmen aus den USA. Wenn man so will, eine schreibende Lana Del Rey. Denn auch hier, in Mary Millers „Big World“, geht es im Wesentlichen um Alkohol, Wohnwagen, die Suburbs, doofe Jobs, hotte Barmänner, verdorbene Jugend.

Und so handeln diese Geschichten (die übrigens äußerst klassisch erzählt sind, klassisch im Sinne Raymond Carvers) meist von Essstörungen, von Ausschweifungen, von Vätern, die nicht zurechtkommen, und von Arschlöchern, mit denen zusammen zu sein eine Zeit lang wohl besser ist, als allein zu sein. Bis es an der Zeit ist, zu gehen.

Aber wir waren bei den Zitaten. Zitat Nummer zwei aus der bereits erwähnten Geschichte: „In fünf Minuten bin ich da, sagt er. Unattraktive Männer geben sich mehr Mühe, sage ich mir. Sie sind zuvorkommender. Aber ficken will ich Norbert nicht.“

Mary Millers Figuren sind meistens etwas verloren wirkende Töchter bereits verstor­bener Mütter. Töchter, die sich nun mit der Welt der letzten Machos herumschlagen. Sie tun es zwar gebrochen, aber nach außen hin selbstbewusst. Allerdings sind sie bauernschlau. Sie verfügen über das Wissen um die Ökonomie des Erotischen (Mary Miller bildet so ­gesehen einen Antipoden zu Michel Houellebecq), und sind dabei so abgefuckt, dass sie nichts mehr erschüttern kann.

Diese Frauen strahlen den Glamour des Kaputten aus, die Freiheit des Scheiterns in ihrer letztmöglichen, sexy Form. Wahrscheinlich ändert sich auch das dann mit dem Alter. Aber Mary Miller – da ist die Zeitverzögerung schuld – war selbst noch Ende 20, Anfang 30, als sie diese Geschichten geschrieben hat. Kaputtheit sieht in dieser Phase noch gut aus.

Aus einer anderen Geschichte, der einzigen, die nicht aus der Ichperspektive erzählt wird, stammt das letzte Zitat. „Mein Bruder in Christus“ heißt sie und erzählt von den Groupies oder Freundinnen irgendeiner unbekannt bleibenden Band. Im Hotelzimmer sieht sich Sänger Jeremy einen Porno an, während Dana und Mel, Freundinnen seit Kindertagen und plötzlich Konkurrentinnen, sich demons­trativ langweilen.

Mary Millers Figuren sind meist etwas verloren wirkende Töchter bereits verstorbener Mütter, die sich nun mit der Welt der letzten Machos herumschlagen

Den beiden Frauen bleibt nichts anderes übrig, als mitzugucken: „Sie wird in den Arsch gefickt und wirkt nicht besonders glücklich, aber wenn der Ton an wäre, würde sie wahrscheinlich sagen, O ja, genau da, da ist die Stelle, Baby. Dana hat mal gehört, dass es immer die weniger Attraktiven sind, an denen der Analverkehr hängen bleibt.“

Das ist die große Welt nach Mary Miller, schäbig und desolat, gekonnt zusammengeschnurrt auf kleine, gemeine und hintersinnige poetische ­Geschichten. We are all born to die. René Hamann

Mary Miller: „Big World“. Deutsch von Alissa Walser. dtv, Hamburg 2017, 192 Seiten, 20 Euro

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