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AK Kraak war nur der Anfang

Zwei engagierten Berliner Filmemacherinnen ist die hiesige linke Szene seit langem zu eng geworden. Nach den Protesten von Genua und Prag dokumentieren sie in ihrem neuen Werk die ausufernde Polizeigewalt in den Armenvierteln von Rio

VON FELIX LEE

Es gibt die einen. Touristen aus den USA und Europa, die nach Rio reisen, um sich nicht nur in der prallen Sonne an der Copacabana zu aalen, sondern auch den Blick auf die andere Seite der Stadt wagen. „Visit the largest slum in Latin America – Favelas Tours“, wirbt ein Reiseunternehmen im Internet und preist „the beaten track“ und „real live urban style“ in den Elendsvierteln Rio de Janeiros. „Gringos“ und „Gringas“ werden sie dann verächtlich von den Slum-BewohnerInnen genannt.

Es gibt aber auch die anderen. Filmaktivistinnen, die sich monatelang Zeit nehmen und sich mit mühseliger Kleinarbeit an die Menschen herantasten. Und wirklich erst dann die Filmkamera aus ihrer Tasche holen, wenn sie das Gefühl haben: Ja, das Vertrauen ist da.

Susanne Dzeik und Kirsten Wagenschein gehören zu der zweiten Gruppe. Insgesamt neun Monate brauchten die beiden 37-jährigen Berlinerinnen für ihr Filmprojekt. Auch sie wurden von den Favela-BewohnerInnen als „Gringas“ bezeichnet. Doch anders. „Nicht so abfällig“, erzählt Dzeik. Entsprechend war ihr Blick auf die Favelas.

Herausgekommen ist eine einstündige Dokumentation über Polizeigewalt in Rio – ein Thema, das keineswegs neu ist. Und doch besticht der Film durch seine Schärfe, seine Nähe, vor allem aber durch das Gefühl, selbst Teil der Favela zu sein. „Ich sah Körper in eine Decke gewickelt. Daraus tropfte Blut. Mir wurde schwarz vor Augen“, sagt Marcia Oliveira Jacintho in die Kamera. Das war kurz nachdem ihr Sohn erschossen wurde; einer von den 1.193 Opfern, die brasilianische Militärpolizisten 2003 ermordeten. Spätestens seit den 80er-Jahren gilt Brasilien als das Land mit der weltweit gewalttätigsten Ordnungsmacht. Allein von 2001 auf 2003 verdoppelte sich die Mordrate an jungen Schwarzen aus den Armenvierteln.

„Wir wollten denen eine Stimme geben, die sonst nie Gehör finden“, sagt Wagenschein. Diesem Prinzip sind sie und Dzeik seit 15 Jahren treu. 1990 hatten sie angefangen Filme zu drehen. „AK Kraak“ heißt noch immer ihr Filmkollektiv: AK in Anlehnung an die „Aktuelle Kamera“ des DDR-Fernsehens. Kraak ist holländisch und heißt „besetzt“. Anfangs dokumentierten sie die damals boomende Hausbesetzerbewegung in Berlin, dann filmten sie andere linke Aktionen und Demos und schnitten das Filmmaterial zu einstündigen Magazinen zusammen. Noch bis vor wenigen Jahren galt es bundesweit in der autonomen Szene als Highlight, wenn ein neuer AK-Kraak-Film erschien.

Diese Zeiten sind vorbei. Aber nicht nur, weil mit der zunehmenden Digitalisierung inzwischen Dutzende von FilmaktivistInnen auf Demos unterwegs sind und das Material binnen weniger Minuten ins Netz stellen. Auch das AK-Kraak-Team hat sich spezialisiert. Als „unbefriedigend“ habe sie es empfunden, „nur für einen bestimmten Kreis zu produzieren“, erzählt Dzeik. Sie wolle Filme gestalten, die auch von Leuten außerhalb der linken Szene gesehen werden.

Weg vom Bewegungshype reicher Industrieländer, hin zu langen Stücken in der Dritten Welt. Die erste längere Dokumentation drehte Dzeik 1999 über die Zapatisten-Bewegung in Mexiko. Über die Gipfelproteste in Prag und Genua drehten sie längere Reportagen. 2002 flogen sie gemeinsam zum Weltsozialforum nach Porto Alegre, knüpften Kontakte nach Buenos Aires. Daraus entstanden zwei Filme. „Brandzeichen – Elemente einer Rebellion“, der über den argentinischen Aufstand 2002 berichtet. Ein Jahr später hatten sie einen Film über die von ArbeiterInnen besetzte Fabrik „Zanun“ im Kasten.

Das nächste Vorhaben der beiden war eine Dokumentation über die Landlosenbewegung in Brasilien. Erste Kontakte knüpften sie über eine Organisation in der Favela „Manguinhos“, die seit mehr als 20 Jahren Favela-Arbeit macht. Hier lernten sie auch Marcio Jironimo kennen, Favela-Bewohner und Videoaktivist. Ohne ihn wäre der Film nicht entstanden. Mit seiner Hilfe waren die Interviews dann schnell aufgenommen. Doch besteht ein Dokumentarfilm nicht nur aus Interviews. Und so reiste Dzeik ein Jahr später ein zweites Mal nach Rio – dieses Mal mit Drehgenehmigung der Drogendealer.

„Es muss auch so sein“, erzählt Dzeik, sonst sei es viel zu gefährlich zu filmen. Ausgerechnet in dem Jahr spitzte sich die Polizeigewalt in Rios Favelas dramatisch zu. Ständig sei geschossen wurden, erinnert sich Dzeik. Panzer seien durch die engen Gassen gefahren. Kinder hätten geschrien.

An eine Situation 2004 kann sich Wagenschein besonders gut erinnern. Auf einem Fußballplatz hatten sie sich gerade ausgeruht, als plötzlich Schüsse fielen. Alle rannten weg. Sie fand mit anderen Jungs Unterschlupf in einer Häusernische. In dieser brenzligen Situation habe einer der Jungen Kaugummis verteilt. „Da waren wir für kurze Zeit eine Schicksalsgemeinschaft“, erzählt Wagenschein. Danach sei das Leben ganz normal weiter gegangen.

Insgesamt neun Monate hatten sie in den Favelas verbracht. Wurden die beiden Berlinerinnen anfangs noch jeden Morgen direkt vom Bus abgeholt, wenn sie zum filmen kamen, wohnten sie beim dritten Besuch bereits selbst in den Favelas. „Es hat sich schnell herumgesprochen, dass wir uns für ihr Anliegen einsetzen“, erzählt Dzeik. „In der Favela ist es wie in einem Dorf.“

Und doch verwehren sich die beiden Filmemacherinnen dem Vorwurf der floskelhaften Politpropaganda oder gar einer Romantisierung von Elendsvierteln. „Wir sehen die Menschen mit all ihren Widersprüchen“, sagt Dzeik. Das sei wertvoller, als die Realität schön zu sehen. Auch das unterscheidet die beiden von den TeilnehmerInnen der Favela-Tours.

Die Doku „Von Mauern und Favelas – Polizeigewalt in Rio“ (60 Minuten, OmU) hat heute um 18 Uhr im Kino Lichtblick in der Kastanienallee 77 Premiere. Weitere Vorstellungen: Täglich bis 11. Oktober, jeweils um 19 Uhr

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