Berliner Szenen: Friedriche im Wedding
Abuni, chill ma!
Eine Grundschule in Berlin-Wedding. Bränpunkt, Digger. Es ist „Morgenband“, wie man es hier nennt, sprich: gemeinsames Arbeiten von Kindern der ersten bis dritten Klasse samt Elternteilen an Buchstaben und Zahlen unterschiedlicher Schwierigkeitsgrade. Ein Drittklässler soll ein Gedicht abschreiben. In Schreibschrift. Sein Vorname: Friedrich, so wie ein längst verstorbener Dichter. Das Gedicht geht so:
„Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah!
Die Luft ist still, als atmete man kaum,
und dennoch fallen raschelnd, fern und nah,
die schönsten Früchte ab von jedem Baum.
O stört sie nicht, die Feier der Natur!
Dies ist die Lese, die sie selber hält,
denn heute löst sich von den Zweigen nur,
was von dem milden Strahl der Sonne fällt.“
Friedrichkind: „Das ist total scheiße. Ich verstehe gar nichts. Was denn für eine Lese?“
Elternteil: „Erklär, erklär, erklär.“
Das Friedrichkind findet das Gedicht immer noch total scheiße. Es ist an seiner Nasenspitze abzulesen, dass es sich dumm fühlt. Man kann beinahe das kleine Hirn rattern, knirschen und anhalten hören. Blockade. Trotz.
Elternteil: „Weißt du, wenn Friedrich Hebbel jetzt herkommen und dich reden hören würde, würde er auch nichts verstehen.“
Augen leuchten: „Echt jetzt?“
„Klar, stell dir vor, der kommt zu euch in den Hort und du so: ‚Lak, echt ey. Abuni, chill ma!‘ Oder: ‚Hau mal ab, du Lauch!‘ Der würde gar nichts checken.“
Kind sieht jetzt sehr zufrieden aus. Elternteil auch. Kind lässt sich alles noch mal erklären, Friedrich Hebbel geht voll klar. Es geht doch nichts über Broken German.
Kirsten Reinhardt
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