Musik frisst Gegenwart

Sexualität und Gewalt: Das Musiktheater kämpft um seine Aktualität. Uraufführungen der neuen Saison zeigen zudem das unermüdliche Basteln am Format: vom Kammertheatralischen zu neuen Versuchen, Wahrnehmungen zu verdichten

VON FRIEDER REININGHAUS

So mancher Opernfreund empfindet es als gravierenden Mangel, dass weder Schumann (1810–1856) noch Schubert (1797–1828) eine Oper hinterließen, die sich als „Kraftwerk der Gefühle“ etablierte. Gewiss hat es in den letzten Jahrzehnten nicht an aufrichtigen Bemühungen profiliertester Dirigenten wie Claudio Abbado oder Nikolaus Harnoncourt gefehlt, „Genoveva“ und „Alfonso und Estrella“ oder „Fierrabras“ zu reaktivieren und im Repertoire zu etablieren. Doch es hat nicht wirklich funktioniert.

Um das OEuvre der beiden Komponisten, die den Inbegriff des „romantischen Liedes“ prägten, dennoch für zeitgenössisches Musiktheater zu nutzen, haben Regisseure wie Herbert Wernicke und Christoph Marthaler begonnen, ihre Liederzyklen unter Aspekten des späten 20. Jahrhunderts zu inszenieren. In diese Fußstapfen trat eine „Kreation“ von Hans Neuenfels, die im Rahmen der RuhrTriennale am Freitag Premiere hatte: ein Liederspiel mit dem Pianisten Marcelo Amaral, zwei Sängern und fünf Schauspielern auf der von Papierschnitzeln bedeckten Spielfläche in der Bochumer Jahrhunderthalle.

„Schumann, Schubert und der Schnee“ – ein „phantastisches Totenfest“. Gestützt auf neuere Biografien suchte Neuenfels mit Dialogen, die er zwischen eine Suite von knapp drei Dutzend Liedern packte, das Leben und Sehnen der beiden großen Komponisten zu erhellen. Am einsamen Tisch suchten sich ein „mehr als gewöhnlich sächselnder“ und von der Angst, sich selbst aufzulösen, befallener Robert Schumann – in der imposanten Gestalt des Baritons Olaf Bär – und dessen zum Herrschen und Sichbeherrschen entschlossene, frierende und von Erstickungsgefahr bedrohte Clara zu erinnern. Ihre vertrackte Liebes-, Lebens- und Produktionsgemeinschaft passiert Revue, die zwei Waschkörbe voll Tagebücher, die weithin gemeinsam geführt wurden, hervorbrachte.

Die Schauspielerin und Regisseursgattin Elisabeth Trissenaar repräsentierte die „Präsidentin der Romantik“: die „achtfache Mutter“ und achtbare Witwe, die ihre Söhne habe verderben lassen, um von Schumann nur „dessen Musik übrig zu lassen“. Ganz offensichtlich identifizierte sich Neuenfels in erheblichem Maß mit dem introvertierten und zum Grübeln neigenden Journalisten und Komponisten, der dem Okkultismus verfiel, vorzeitig alterte und, zeitlebens suizidgefährdet, in den Rhein sprang, als ihm in Düsseldorf die Probleme über den Kopf wuchsen und die progressive Paralyse zum Endspiel ansetzte.

Inspiriert von der Heine-Vertonung „Der Doppeltgänger“ aus dem „Schwanengesang“ setzte er eine gedoppelte Schubert-Figur als Kontrast: Franz Schubert hat er schick und geschickt geteilt in einen Tenor, der die „reine Kunst“ zu besingen und zu beglaubigen hat, und einen Schauspieler mit dem Triebleben einer „ziemlichen Lebenssau“. Beide sind eng umgeben von vier Schauspielern, die als die Freunde Moritz von Schwind, Mayrhofer, Schober, Bauernfeld und in homoerotischer Emphase agieren. Wobei der Schöpfer des musikliterarischen Programms dazu tendierte, den ewig jungen „Erotiker Schubert“ als „nicht praktizierend“ vorzuführen. Nicht anders als der Antipode Schumann, der sein Werk – zusammen mit dem befreundeten Kollegen Mendelssohn von 1840 an posthum „groß herausbrachte“, blieb er, wie es in seinem frühen Lied vom „Wanderer“ heißt, ein „Fremdling überall“.

Neuenfels präsentierte teilweise anmutig „inszenierte Kammermusik“ mit wundersam bildungsbürgerlichen Reminiszenzen. Das Kabinettstück: der mit verteilten Rollen vorgetragene „Erlkönig“, in den das achte Lied aus Schumanns „Liederkreis“ einmontiert wurde: „Anfangs wollt ich fast verzagen …“

Neuenfels brachte tiefen Sinn und die Spannung des Uneingelösten in das überwiegend flach gehaltene Niveau der seit diesem Jahr von Jürgen Flimm ausgerichteten und ums Stichwort „Romantik“ gerankten RuhrTriennale. Ein Wurf wie Mauricio Kagels Liederoper „Aus Deutschland“, die vor einem viertel Jahrhundert den deutsch-romantischen Kontinent mit politischem Gespür aufmischte, ist freilich nicht geglückt.

Wunschtraum: Anti-Oper

Diametral entgegengesetzt zum Neuenfels’schen Ansatz präsentierte sich neues Musiktheater auf der Höhe der postmodernen Gegenwart im Rahmen des Festivals musica an der Opéra du Rhin: Marc Monnet hatte angekündigt, er werde für Strasbourg eine „Anti-Oper“ liefern. Der 1947 geborene französische Komponist hielt Wort und entwickelte mit „Pan“ ein sibyllinisches multimediales Spektakel. Die Basis ist eine szenisch eingebundene und erweiterte Komposition für Soli, Chor, Orchester, Elektronik und Akrobatik. Zeitweise mutet die Tonspur an wie eine Hommage à Kurt Weill, dessen Sound durch die Mühle von Philip Glass gedreht wurde. Anfangs begleitet eine exzessiv erotische Pantomime eine wie von György Kurtág inspirierte Klavier-Rhapsodie: eine schlanke schöne junge Frau wird ihre Kleider los. Während sie sich weit nach vorn beugt und oben frei macht, zerrt der Partner schon heftig am Höschen.

Liebe, Begehren, Tod – unter dem Stichwort „Pan“, das „alles“ bedeutet, aber auch auf den griechischen Fauns-Gott mit den Bocksbeinen und der legendären Schilfrohrflöte anspielt, wurde auf vier Ebenen Text gereicht, allerdings assoziativ hinausschweifend und ohne nahe liegende Verbindungslinien zum szenischen Geschehen. Zu den auf der Rückwand der Bühnen eingeblendeten Schriftzügen kommen die Wortspielereien mit großen weißen Styroporbuchstaben. Die Akteure stellen sie wie in rituellen Akten auf und um, tragen sie dann auch wieder weg, um für neue Assoziationen Platz zu schaffen. Ein Sprecher bestreitet dadaistische Soli.

Vom gesungenen Text ist nicht allzu viel zu verstehen – er verschwindet in der Lineatur der Musik. Mali Bendi Merad nutzt ihn für die Demonstration ihrer kristallklaren Stimme, die wie ein Sandstrahl eingesetzt wird. Pascal Ramberts Installationen und Inszenierung sorgen dafür, dass dieses Gesamtkunstwerk nicht komplexistisch wirkt. Das jeweils Einzelne wird von anderem nicht überdeckt oder erschlagen, sondern die Simultaneitäten bleiben wahrnehmbar und wirken sinnschärfend. Und weithin übrigens auch auf denkwürdige Weise unterhaltsam.

Gewaltforschung im Alltag

In ähnliche Richtung wie Marc Monnet tastete sich auch Jan Müller-Wieland vor. Mit „Die Irre oder Nächtlicher Fischfang“ wollten die Librettistin Micaela von Marcard und der in Berlin lebende Komponist den Ursachen von wahl- und zielloser Gewalt im Alltag nachspüren. Dem politisch korrekten Zweck dienen „fetzenhafte, kaum mehr Sätze formulierenden“ Worte aus dem Geiste Becketts, kleine pantomimische Szenen und eine zitatenreiche Musik in der Bundeskunsthalle Bonn.

Vier finstere Gestalten marschierten da zunächst über die weite leere Bühne – und was sie trällerten, klang ziemlich heftig nach Horst-Wessel-Lied. Auch im weiteren Verlauf operierte der Einakter immer wieder mit deutlichen Anspielungen auf bekannte Tonfolgen. Die Texte, die den leichter oder auch heftiger verformten Melodien ursprünglich zugrunde liegen und manchmal mitgesungen werden, mitunter auch nicht, stellen die einzigen Gedankenbrücken zur Welt der bedeutungsgeladenen Sprache dar. Wohl um Bürgerlichkeit als subkutanes Gewaltpotenzial vorzuführen, ließ Müller-Wieland einen Fahnenschwinger die Melodie von Charles Gounods „Ave Maria“-Melodie verhunzen – es möchte einem vorkommen, als wolle der Tonsetzer da den Pausenclown der Kompositionsgeschichte spielen.

Kindermord in Belgien

Das multimedial sich verfransende, auf aktuelle Tendenzen der Gegenwart zielende Musiktheater provoziert auch Gegenentwürfe: Arbeiten, die ganz und gar wieder „Oper“ sein wollen. Mit allerhand neuen Schönheiten, die nur zu oft von früheren zehren, singen sie von historischen Schrecken. Die von der Belgischen Nationaloper in Brüssel zur Uraufführung promovierte großformatige Oper „Thyeste“ ist vom ewig aktuellen Thema der Gewalt bestimmt. Die mythologische Thematik von Senecas „Thyeste“, die der Dramatiker Hugo Claus für ihn in die Form eines konventionellen Librettos brachte, würde nach Auffassung des Komponisten Jan van Vliimen (1935–2004) „banalisiert und geschwächt, wenn man sie in einen angeblich aktuellen Kontext versetzt“.

So tauchte das von Gerardjan Rijnders ohne jede Brechung in edler Einfalt und stiller Größe inszenierte Werk noch einmal tief ein in die Familiengeschichte der Tantaliden: König Atreus lockt den Bruder Thyestes, der ihm einst die Frau ausspannte, aus dem Exil zurück und setzt diesem Fleisch und Blut der eigenen Söhne als Abendmahl vor. Wie dem in klassisch griechischer Weise resümierenden Chor ordnete van Vlijmen auch der Titelrolle des Remigranten eine auf modalen Wendungen beruhende Lineatur zu, während er die Partie des aggressiven Atreus stark chromatisch gestaltete. Freilich nähern sich die Singweisen der beiden Protagonisten zunehmend und sinnstiftend an: denn beide sind zugleich Täter und Opfer.

Das Publikum in der belgischen Hauptstadt nahm „Thyeste“ respektvoll auf und mag froh gewesen sein, dass sowohl das Werk als auch seine Inszenierung alle Anspielungen auf Menschenopfer und Kindermorde der jüngsten Vergangenheit vermied. Im Kontext des neuen Musiktheaters, das sich im Nordwesten Europas zu Saisonbeginn nach vorn tastete, wirkte die Brüsseler „Thyeste“ wie eine selbstgenügsame alte Tante, die von Postmoderne und Medienterror nichts wissen möchte.