Oh no, not again!

Freunde dürfen ihn auch Prog nennen: Der progressive Rock, Kind der Siebzigerjahre, ist wieder da. Seine Fans leugnen seine Rückkehr hartnäckig. Denn so und aus dieser Richtung haben sie ihn nicht erwartet. Diesmal kommt er aus Amerika, nicht aus England. Ohne Hochglanz. Und ohne Respekt

VON ARNO FRANK

Er ist am Ende seiner Kräfte, ausgebrannt und müde. Selbst in seinen seltenen klaren Momenten ist er kaum ansprechbar, nur noch ein Schatten seiner selbst. Was ihn bloß so ruiniert hat? Sex, Drogen und falsche Freunde. Typen wie Neil Young, der ihm zu seinem Lebenswandel sogar noch applaudierte: „Hey hey, my my“ und so, „Rock ’n’ Roll will never die!“. Was der Rock ’n’ Roll natürlich sofort geglaubt hat, er ist halt ’ne ehrliche Haut.

Die beste Band der Welt

Nun liegt er hier, schon seit einer ganzen Weile, und die britische Musikpresse schickt alle fünf Minuten eine neue „beste Band der Welt“ vorbei. Schlanke Jungs in engen Jeans und knackigen kleinen Songs, wo man sich schon beim Mitwippen wild fühlen darf. Die kommen dann vorbei, legen die Hände auf den Rock und heilen ihn, irgendwie, für eine Weile wenigstens, weil er halt dran glaubt. Der Rock ist dann immer gerührt und merkt sich lustige Namen wie Franz Ferdinand, Strokes, Futureheads, Movement, Kaiser Chiefs, Kills, Hives, Mando Diao, Jets, Kings Of Leon, Bloc Party oder Maxïmo Park. Namen, die kennen muss, wer mitreden will.

Weil es die Namen von Marken sind, die bei der entscheidenden Zielgruppe hoch im Kurs stehen. Natürlich wäre es vollkommen sinnlos, nun etwa Kunststudenten aus Glasgow mit schwedischen Gymnasiasten oder kalifornischen Ex-Junkies über einen Kamm scheren zu wollen. Ihre Musik dagegen lässt sich, trotz unterschiedlichster Temperamente oder Talente, verblüffend locker auf einen einzigen Nenner bringen: Pop.

Das richtige Arschwackeln

Pop als postmoderne Unterhaltungsmusik, in der eine oft verwirrende Vielfalt verschiedener Zeichen und Zitate verbaut und möglichst lakonisch, knapp, trocken auf den Punkt gebracht wird. Ohne viel Firlefanz, bitte nicht länger als drei Minuten pro Song. Hier darf jeder immer alles zitieren, von peinlichem Pubrock bis zum Ska, wenn er’s nur mit dem richtigen Anzug, Arschwackeln oder Augenzwinkern tut. Wer es aber wagt, mal nicht über „Love, shalalala“ zu singen, wird von der Presse postwendend abgestraft: „Oh no, now they want us to think!“ Wehe, ein Song dauert länger als eine durchschnittliche Zigarrettenlänge: „Die kommen nicht auf den Punkt.“ Uncool ist, wovon uns der Punk befreite. „Du sollst nicht sinnlos rumfrickeln und über Elfen singen“, war seine Forderung, „du sollst nicht proggen!“, sein Gebot. Erst heute, 25 Jahre später, traut sich der Progrock wieder aus der Verbannung zurück. Und er hat sich sehr verändert …

Schon der Name Progressive Rock (Freunde dürfen Prog zu ihm sagen) ist so vage wie programmatisch. Er entstand, wie so vieles, im Sommer der Liebe gegen Ende der Sechzigerjahre. Einer Zeit, in der alles befreit wurde, was nicht rechtzeitig auf den Bäumen war – der Sex, die Frau, der Vietkong, der Geist. Warum nicht auch die Musik? Frühe progressive US-Bands wie Iron Butterfly oder The Grateful Dead zerdehnten daher den althergebrachten Blues auf psychedelisch bedingte Überlänge, und das war’s auch schon.

Progrock ist zunächst ein sehr englisches Phänomen. Hier arbeiteten Gruppen wie King Crimson, Pink Floyd, Genesis, Yes, Emerson Lake & Palmer, Van der Graaf Generator, Gentle Giant oder Jethro Tull auf einer Baustelle, die eben erst von den Beatles verlassen worden war. Sie alle befreiten auf Teufel komm raus und führten die Popmusik – mal an der Nase und mal im Kreis herum, mal auf Holzwege und manchmal wirklich in einsame Höhen, wo Popmusik eigentlich nichts zu suchen hat.

Es ging zunächst, immer auf den Spuren der Beatles, weg vom gängigen Single-Format und hin zum Album. Weg von der bloßen Songsammlung, hin zum Konzeptalbum mit durchgehender Erzählung („Tommy“ von The Who) oder musikalischen Meditationen über ein einziges Thema („Dark Side Of The Moon“ von Pink Floyd). Weg vom Song, hin zur Suite, die sich meistens aus mehreren kürzen Teilen zusammensetzt („In Held Twas In I“ von Procol Harum oder „Supper’s Ready“ von Genesis). Seltener wird die Komplexität einer abgeschlossenen Komposition von eigener Geltung erreicht („Close To The Edge“ von Yes). Weg vom Hit und hin zu einer Musik, die den Hörer für seine Aufmerksamkeit mit ungewöhnlichen akustischen Erfahrungen entlohnt, wie Jon Andersons Kastratenstimme (Yes), Mike Oldfields Entdeckung eines Instruments namens „Tubular Bells“ oder den Collagen aus verkehrt herum ablaufenden Tonbandschnipseln, mit denen Pink Floyds „Ummagumma“ unserer Sample-Ära um Jahrzehnte vorausreitet. Harte Kost.

Gesungen wurde gerne über aktuelle Hippie-Themen, also Sonnenauf- und -untergänge, Besuche beim Dalai Lama oder auf dem Grund des Ozeans, Astralreisen zur Venus oder in die eigene Blutbahn. Hier, in diesen schillernden Seifenblasen, hallen die heitersten Ideale der Blumenkinder manchmal noch bis in die Siebzigerjahre hinein. Hier klingt die Beschwörung einer heilen Welt zunehmend verschwurbelt, wird die Metaphorik rätselhafter. Genesis führen das englische Musiktheater auf die Konzertbühne, eine Liturgie mit Mummenschanz und Kostümwechsel. Pink Floyd basteln allerlei blinkenden Blubberkram zur Visualisierung ihrer Trips und erfinden die Lightshow.

Hilfe! Kunststudenten!

Die zunehmend um sich greifende inhaltliche Leere wurde mit Jazz gefüllt, mit Grieg, Mussorgski und Bach, aber auch mit Neutönern, Edgar Varese und musique concréte. Hier setzte auch schon die Krise eines Genres ein, das sich das permanente Voranschreiten zum Ziel gesetzt hat. Während sich die Bands mit akademischem Ernst und sportlichem Eifer gegenseitig an Virtuosität, Originalität und Perfektion überboten, trampelten sie doch nur auf der Stelle. Whatever happened to Rock ’n’ Roll? Nun, er geriet in die Hände gut ausgebildeter Kunststudenten, die ihn aus purer Langeweile schrecklich entstellten. Dann kam der Punk und knipste das Licht aus.

Die meisten Gruppen erfanden sich neu. Oder lösten sich auf wie eine Fata Morgana. Der Prog existierte trotzdem weiter, im Dunkel des inneren Exils und auf Conventions, wo obskure Genesis-Coverbands aus Italien beklatscht werden. Von einer eingeschworenen Szene, die auf ihren ganz besonderen Musikgeschmack sehr stolz ist. So stolz, dass sie die Rückkehr des Prog bis heute schlicht leugnet – weil er so und aus dieser Richtung nicht erwartet wurde.

Aus Amerika. Ohne Hochglanz. Und ohne Respekt. Tiefstapler wie die vollbärtigen Grandaddy aus Kalifornien, die den opulenten Sound von King Crimson in unsere Zeit übersetzen, indem sie ihn brechen, ihn mit einem leiernden Walkman reproduzieren. Wunderkinder wie Sufjan Stevens, die jedem US-Bundesstaat ein Folk-Konzeptalbum widmen will („Welcome To Michigan“ und „Come On Feel The Illinoise“ sind schon fertig). Ein Ehepaar wie Arcade Fire aus Kanada, die auf der Bühne mit Megafonen hantieren und über deren gefeiertes Debüt „Funeral“ heute noch viele rätseln, was das eigentlich für eine Musik ist. The Decemberists aus Portland, die so gerne Seemannsgarn vertonen und dabei die Dynamik ihrer Musik an den Wendungen der Geschichte orientieren. Die Gruppe Archive, die es fertig bringt, wie ein tönendes Pink-Floyd-Archiv zu klingen und trotzdem nicht zu nerven. System Of A Down, die Hardcore mit armenischer Volksmusik kreuzen. Avantgardisten, wie der in Berlin lebende New Yorker Sample-Künstler Jason Forrest, modellieren ganze Alben aus unkenntlich kurzen Progrock-Schnipseln, und alle tanzen, keiner merkt’s. Van Der Graaf Generator wagen eine Reunion und klingen nicht peinlich. Sogar ein Indie-Star wie Ben Folds scheint eine Schwäche fürs Electric Light Orchestra zu haben.

Entspann dich mal!

Diese jungen Künstler haben nichts gemein. Sie alle wollen einfach irgendwohin, das Gängige dehnen. Und alle würden sich mit Händen und Füßen gegen die Zuschreibung wehren, die machten Progressive Rock. Bei den Queens Of The Stone Age bedeutet „don’t be prog“ so viel wie „Ey, entspann dich mal“. Eine Ausnahme ist André 3000 von Outcast, ein HipHop-Star, der ausgerechnet Kate Bush für die „am meisten unterschätzte Musikerin auf diesem Planeten“ hält. Eine andere Ausnahme sind Mars Volta aus Los Angeles, deren aktuelles Album „Frances The Mute“ aus bis zu halbstündigen Suiten besteht. Kritiker sind aus dem Häuschen, weil sie diese Musik für eine Fusion aus Punk und Prog halten.

Ihr Gitarrist Omar Rodriquez ist knapp über 20, trägt eine dicke schwarze Brille und Dreadlocks und sagt: „Mein Problem war, dass ich mit der Musik nichts anfangen konnte, die meine Freunde toll fanden. Immer hieß es: ‚Oh, Nirvana hat mein Leben verändert‘. Zuletzt lag mir Albert Hammond von den Strokes damit in den Ohren. Ich kann’s nicht mehr hören. Nichts gegen Nirvana, das ist schon okay, aber auch irgendwie … altbacken und gewöhnlich“. Auf die Frage nach seiner Lieblings-Punkplatte nennt er tatsächlich „Still Life“ von den spröden Van Der Graaf Generator, grinst und entschuldigt sich, das sei jetzt bestimmt keine coole Antwort: „Aber wenn ich Punk richtig verstanden habe, dann muss er provozieren und zertrümmern, damit er befreien kann. Provozieren kann ich heute nur noch mit Prog. Es ist vielleicht der neue Punkrock, verstehst du?“

Progrocker? Ärzte!

Und während er erklärt, dass das Gezwitscher auf der Platte nicht von Vögeln stammt, sondern von den Giftfröschen, die er zu Hause in Puerto Rico aufgenommen hat und an denen man nur lecken muss, um „für immer von irgendwelchen anderen Drogen loszukommen“, denkt man: Die sind schon okay, diese neuen Progger. Progrocker? Nennen wir sie nicht so, das haben sie nicht verdient! Lassen wir sie lieber durch, sie sind Arzt!