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Es ist doch was schiefgelaufen, wenn Leute aus dem Westen nicht in den Osten gehenAus Angst wird neuer Hass geboren

Foto: Lou Probsthayn

Fremd und befremdlich

Katrin Seddig

Seit 26 Jahren bin ich also Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Länger, als ich Bürger der Deutschen Demokratischen Republik war. Kinder, die 1990 geboren worden sind, haben mittlerweile selbst Kinder und meine eigenen Kinder wissen nur verschwommen was von DDR. 1995 erfuhr ich in der Schlange eines Lüneburger Getränkemarktes, dass es ein Problem wäre, dass die Leute im Osten das Arbeiten nicht gelernt hätten.

Ich dachte an meinen Vater, der seit seinem 14. Lebensjahr auf dem Bau gearbeitet hatte, der jeden Abend mit vom Kalk zerfressenen Händen nach Hause kam und gleich weiter in den Stall ging. Ich dachte an meine Mutter, die in drei Schichten gearbeitet, den Haushalt und drei Kinder versorgt hatte. Damit sie zurechtkamen, betrieben meine Eltern nebenher eine kleine Landwirtschaft mit ein paar Schweinen, Schafen, Hühnern, einem großen Gemüsegarten. Aber die Leute in dem Lüneburger Getränkemarkt waren sich einig, dass sie das Arbeiten einfach nicht gelernt hätten.

Im vergangenen Jahr bin ich mit einem Freund um den Ratzeburger See gewandert. An der nördlichen Stelle, wo es ein Restaurant gibt und eine Bootsanlegestelle, fragten wir ein älteres Ehepaar, ob sie wüssten, wie der Weg weiterverlaufen würde, denn es sah aus, als würde er hier enden.

Sie winkten ab: „Weiter geht das nicht.“ Sie wären alte Ratzeburger, gingen regelmäßig diesen Weg, aber immer nur bis hierher. Ich wusste aus anderer Quelle, dass man den See umrunden konnte, seit es eben keine innerdeutsche Grenze mehr gab. „Waren Sie denn noch nie auf der anderen Seite?“, fragte ich. „Da is’ja nichts“, sagten sie, und dass sie überhaupt noch nie im Osten gewesen wären. Wir fanden den Weg.

Auf der Ratzeburger Seite liegen viele Ruderclubs und Kleingartenvereine, auf der Mecklenburger Seite ein Dörfchen und entlang des Sees ein Naturschutzgebiet, wo früher das Grenzgebiet gewesen sein musste. Von der Grenze war nicht mehr viel zu sehen, aber sie war noch da. Für dieses Ratzeburger Paar und auch für mich wird sie noch lange da sein. Ich fahre ab und zu in den Osten, um meine Mutter zu besuchen. Ich fahre nach Berlin, wo Ost und West meiner Meinung nach am einfachsten ineinander aufgegangen sind. Meine Schwester wohnt im Stadtteil Friedrichshain, der 2001 mit dem Westberliner Stadtteil Kreuzberg zu Friedrichshain-Kreuzberg verschmolzen ist.

So ist es auch mit Mitte, Tiergarten und Wedding geschehen, die jetzt alle Mitte sind. In Berlin sagt kaum noch jemand, dass er im Osten wohne oder im Westen, in Berlin wohnt man halt in dem und dem Stadtteil in der und der Straße. Neuberliner wissen mitunter gar nicht mehr, wo Osten war und wo Westen.

Anders ist es zwischen Mecklenburg und Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt. Mecklenburg-Vorpommern ist das Land, in dem die AfD jetzt 18 Sitze im Landtag hat. In Sachsen-Anhalt sind es sogar 25. In Niedersachsen hat sie keine, vorerst, und auch Schleswig-Holstein muss kommendes Jahr erst mal wählen. Allerdings hat der Osten auch eine starke Linke, im Westen ist die Linke in den Landesvertretungen kaum präsent.

Ein Bekannter arbeitet in der Flüchtlingshilfe. Der meint, im Osten, in Mecklenburg etwa, da wäre es leichter, eine bezahlbare Wohnung zu finden, als zum Beispiel in Hamburg, das würden sie den Flüchtlingen sagen, aber da wolle keiner hin, da hätten sie alle Angst. Ich wohne seit 22 Jahren in Hamburg, aber der Osten ist meine verlassene Kindheit, und ich denke, es ist was schiefgelaufen, es hat zu tun mit Vorurteilen, mit Angst und Schuld und Scham und aus all dem ist ein neuer Hass geboren.

Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Eine Nacht und alles“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.

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