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Kritik der Woche: Sebastian Krüger über das Hörspiel „The Dark Ages“„Ich scheiße auf Europa heute“

Was das Identifizieren von Leichen angeht, sind wir Bosnier weltweit führend“. Der junge Mann klingt als würde er trotzig lächeln. Als einer der wenigen Überlebenden seines Dorfes kehrt er nach Ende der Jugoslawienkriege zurück und hilft Hinterbliebenen dabei, ihre toten Verwandten zu finden.

Mit dem Hörspiel „The Dark Ages“ inszeniert Regisseur und Autor Milo Rau ein Kaleidoskop europäischer Schicksale. Rau hat zuvor bereits den Völkermord in Ruanda sowie Breiviks Manifest auf die Bühne gebracht. The Dark Ages ist der zweite Teil seiner Europa-Trilogie und folgt auf „The Civil War“ von 2014.

Europa befindet sich, wie man sagt, seit Jahrzehnten in einer Ära nie dagewesener Stabilität und Sicherheit. Rau inszeniert vier eigenständige Geschichten aus dem heutigen Russland, Serbien und Deutschland zwischen 1945 und 1998, die ein anderes Bild zeichnen. Ein Mädchen aus gesicherten Verhältnissen zieht nach dem chaotischen Zusammenbruch der Sowjetunion nach Deutschland und versucht, sich einzuleben. Ein Sprecher erlebte die Bombardierung Bremens als Kind und erzählt vom konflikthaften Alltag im Nachkriegsdeutschland. Ein Zeitzeuge des Krieges in Serbien spricht von Massengräbern, Konzentrationslagern – von der Verbitterung in einem gespaltenen Land. Eine rebellierende Teenagerin mit Vorliebe für Nirvana wird in Sarajevo vom Krieg überrascht und erlebt Entbehrungen und Leid.

Nicht zuletzt weil diese vier SprecherInnen die Geschichten teilweise in ihre eigenen Biografien einbetten, fühlen sich die geschilderten Sorgen und Verluste tatsächlich echt an. Wie authentisch die Details sind, ist nicht sicher. Durch die persönlichen Blickwinkel wirkt das Erzählte nah und beklemmend, obwohl es sehr nüchtern erzählt wird.

Rau demontiert das Bild einer Generation, die in einem europaweiten Frieden aufgewachsen ist. Seine Geschichten sind geprägt von Unsicherheit und existenzieller Not.

Besonders unter die Haut gehen die zwei Geschichten aus Bosnien: Eine Granate schlägt auf einem Marktplatz ein und zerfetzt Menschen bis zur Unkenntlichkeit. Serbische Soldaten massakrieren DorfbewohnerInnen und werfen sie in einen Brunnen. Jahre später werden die Leichen geborgen, der Erzähler erkennt die Kleidung seines Vaters.

Die slowenische Band Laibach ist für die Musik verantwortlich. Vom einstmals harten Sound oder dem Hang zur Provokation ist hier nichts zu hören. Zwischen den fünf Akten sowie am Anfang und Ende des Stückes erklingen atmosphärische Akustikpassagen. Weitere Effekte braucht das Hörspiel nicht, die SprecherInnen tragen ihre Geschichten in ruhigen Monologen vor.

Nach einer knappen Stunde endet das Hörspiel. Laibach singen ein Zitat von Oscar Wilde: „Jeder tötet, was er liebt.“ Was das im Kontext von The Dark Ages bedeutet, bleibt rätselhaft. Rau entlässt die ZuhörerInnen mit offenen Fragen und weckt Zweifel an diesem friedlichen, geeinten Europa.

„The Dark Ages“ (WDR-Produktion) läuft Sonntag um 17.05 Uhr im Nordwestradio

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