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Die WahrheitMeine Cousine Stine

Kolumne
von Joachim Schulz

Sie war breit wie ein Schrank, ein Schlag von ihr konnte einen Elefanten in Vollnarkose versetzen. Seit Kindstagen waren wir einander versprochen…

E s war der letzte Wille unserer Urgroßmutter. „Sie werden heiraten, schwört es!“, hauchte sie auf dem Sterbebett. „Wir schwören es“, sagte Onkel Alwin. Er machte eine Kopfbewegung hin zu den anderen Familienmitgliedern, und alle hoben die Finger. Alle bis auf Stine und mich. Denn wir lagen in unseren Kinderwagen und krähten. Dabei waren wir es, die die Angelegenheit ausbaden sollten. Das heißt: Genaugenommen nur ich.

Stine kam häufig bei uns vorbei. Sie stapfte mit schweren O-Bein-Schritten herein, rief: „Denk dran, wir sind einander versprochen!“, und schlug mir so heftig auf die Schulter, dass ich ächzte. „Machst’n da?“, fragte sie und zeigte auf meine Malsachen. Ich seufzte. „Eigentlich sollte das ,Lassie' werden“, sagte ich, wie üblich aber hatte ihr Überfall dazu geführt, dass das Tuschwasser umgefallen und das Bild ruiniert war. „Phh“, machte sie, „ist doch langweilig. Lass uns lieber ,Dirty Slim und die Komantschen‘ spielen.“ Ich seufzte wieder. Denn blöderweise wurde Slim von den Komantschen immer so sehr vermöbelt, dass ich hinterher aussah, als ob ich in ungebremstem Galopp mit einem Totempfahl zusammengestoßen wäre.

Wir waren verschieden und blieben es. Stines Gang wurde jedes Jahr breiter, und die Kraft, mit der sie mir auf die Schulter schlug, reichte bald aus, um einem Elefanten eine Vollnarkose zu verpassen. Ich hingegen komponierte avantgardistische Tonfolgen für Trillerpfeife und Eierschneider oder versuchte, mit Hilfe meines Chemiebaukastens aus einer gelblichen Substanz, die ich im Keller gefunden hatte, Gold zu gewinnen. Auf jeden Fall musste man für keine meiner Tätigkeiten ein größeres Säugetier k. o. schlagen können.

Als Stine fünfzehn war, verdingte sie sich als Junge verkleidet auf einem Hochseetrawler. Ich atmete auf, weil ich hoffte, von ihren Besuchen künftig verschont zu werden. Aber jedes Jahr kurz vor Weihnachten kam sie zurück, stapfte mit breitem Schritt herein und rief: „Denk dran, wir sind einander versprochen!“

Anscheinend jedoch wurde ihr meine Zerbrechlichkeit mehr und mehr unheimlich. Ihre Kraft wuchs wegen des harten Seebärenlebens von Jahr zu Jahr, ihr Schlag auf meine Schulter aber wurde immer verhaltener und schließlich war es fast eine zärtliche Berührung. Im Jahr darauf fiel ihr Besuch erstmals aus, und fortan blieb sie verschwunden. Ich hörte davon, dass sie einen ehemaligen Wrestlingchampion in Manila geheiratet habe. Angeblich hatten die beiden auf ihrer Hochzeit einen Ringkampf ausgetragen, der – da Stine natürlich gewonnen hatte – entschied, dass der Wrestler mit Hilfe eines chinesischen Reproduktionslabors die Kinder der beiden gebären und großziehen sollte.

Versteht sich, dass ich die Geschichte nicht glaubte. Doch als man mir wenig später erzählte, dass Stine vor der Hochzeit über den Rand der Erdenscheibe geschippert war, um Uroma im Nirwana aufzusuchen und ihre Erlaubnis für diese Verbindung einzuholen, da wusste ich, dass es der Wahrheit entsprach.

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