Panter Kandidat III Ron Paustian, Metal-Fan und Wacken-Open-Air-Fan, hält nichts von Mitleidsmaschen für Menschen mit Handicap. Er will helfen – und wie!: Der etwas andere Escortservice
Aus Hamburg Gina Bucher
Der Aufgang zur „MS Stubnitz“ ist schmal und steil. Ein wackliger Steg führt auf das denkmalgeschützte Containerschiff aus der DDR, das unterdessen ein beliebter Partyklub in Hamburg ist. Heute findet hier, weit hinter der Hafencity am Kirchenpauerkai, ein Heavy-Metal-Konzert statt. Unter den ersten Gästen, die pünktlich um 20 Uhr erscheinen, sind auch René und Oz.
Zwei Metalfans mit je einem Bier in der Hand und einem wichtigen Auftrag: Wollen heute Rollstuhlfahrende oder anders gehandicapte Menschen ins Konzert, werden sie helfen – als Ehrenamtliche bei „Inklusion muss laut sein“ (IMLS), eine Initiative, die der Dithmarscher Ron Paustian gegründet hat.
„In Deutschland leben mehr als zehn Millionen Menschen mit einer anerkannten Behinderung“, sagt der 39-Jährige, um gleich nachzufragen: „Aber wo sind sie?“ Viel zu selten sind sie im öffentlichen Leben sichtbar, das will seine Initiative ändern.
Selbst Metalfan und mit Handicap – er leidet unter Schizophrenie und braucht bei Konzerten ruhige Rückzugsorte – ärgerte es Ron Paustian vor Jahren, dass es kaum Informationen und Angebote für Fans mit Behinderung gab. Als erste Hilfe gründete er das Onlinemagazin New Metal Media mit Informationen zur Barrierefreiheit für Rollstuhlfahrer, Gehbehinderte, Blinde, Taube. Als Frührentner hatte er viel Zeit, begann mit Veranstaltern zu sprechen, schlug hier eine Rampe vor, dort ein Podest, fragte nach Rückzugsorten. Und er fing an, freiwillige Begleiter*innen zu rekrutieren, die behinderten KonzertgängerInnen bei Festivals und Konzerten helfen. Zunächst als hartnäckiger Einzelkämpfer. Auch wenn inzwischen Patrick und Kathleen zum festen Team der Initiative gehören: „Das Wir“, muss er lachend zugeben, „war eigentlich lange nur ich allein.“
Ron Paustian erzählt auf Deck der „MS Stubnitz“, wie aus seiner kleinen Idee eine gemeinnützige Organisation mit rund 450 ehrenamtlich Helfenden in ganz Deutschland, in Österreich, in der Schweiz, in den Niederlanden und sogar in Belgien geworden ist. Zur dunkelblauen Jeans trägt er sein Lieblings-T-Shirt mit ehrfurchtgebietendem Höllenhund-Aufdruck, ein Geschenk einer befreundeten Band, die während des Wacken-Open-Airs bei ihm übernachtet hatte.
Umsonst ist Barrierefreiheit nicht zu haben. Eine Rolli-Rampe allein, sagt er, koste 5.000 Euro. Wenn er kein Geld über Sponsoren fand, hat er kurzerhand selbst etwas beigesteuert. Wobei er das als Beispiel erwähnt, nicht als Grund, um zu jammern. Denn ehrenamtliche Arbeit, davon ist der 39-Jährige überzeugt, hat viel mit Liebhaberei zu tun.
Hartnäckig streiten mit Ämtern und Kassen
Er sieht das ganz pragmatisch: „Man muss das wollen. Oder man muss es lassen. Mehr gibt es nicht.“ Er selbst wollte, studierte Paragrafen zu den Rechten von Menschen mit Handicap und ist nach sieben Jahren Ehrenamt gefragter Inklusionsprofi. Zum Beispiel auch für Menschen mit unsichtbarer Behinderung: „Blinde und Taube fallen oft aus dem Raster: Man sieht sie zwar, nimmt sie vielleicht sogar als Behinderte wahr, aber in der Inklusion sind sie nicht angekommen. Weil man ihre Behinderung nicht recht greifen kann. Blinde brauchen aber ebenso Leitsysteme.“
Inzwischen wirkt er in Gremien seiner Heimatkommune für Barrierefreiheit. Er streitet gern und hartnäckig mit Krankenkassen und Ämtern, wenn sie Betroffenen, die sich an ihn wenden, Hilfsmittel vorenthalten wollten. Er hat die Kampagne „1 Sekunde“ ins Leben gerufen, die klar macht, wie schnell man vom „Normalo“ zum Menschen mit Handicap werden kann. Er hat die Broschüre „Wacken on wheels“ herausgegeben und einen Trickfilm-Cartoon für Schüler zum Thema Inklusion gestaltet.
Die Initiative „IMLS“ setzt sich ehrenamtlich für Menschen mit Behinderung ein, indem sie mithilft, Barrierefreiheit im Alltag, bei Konzerten und anderen Kulturevents zu ermöglichen.
Gegründet wurde „IMLS“ von Ron Paustian. Unterdessen ist ein Netzwerk von über 450 Ehrenamtlichen in ganz Deutschland und dessen Nachbarländern entstanden.
Werden Sie ehrenamtliche Begleitperson: info@i-m-l-s.com
Alle Infos zu IMLS unter: www.i-m-l-s.de
Spenden sind willkommen.
Zurück zur „MS Stubnitz“: Dass ein denkmalgeschütztes Schiff alles andere als barrierefrei ist, versteht sich von selbst. Dass Menschen mit Behinderung deswegen draußen bleiben, muss dagegen nicht sein. Deswegen sind René und Oz heute Abend hier. Unabhängig davon, ob jemand kommt oder nicht: Das Recht auf Teilhabe hat ein ein*e einzige*r genauso wie zehn.
Gefunden hat Ron Paustian die beiden Metalfans über Facebook. Dort postet er Aufrufe gezielt in Gruppen. Zunächst meldeten sich nicht so viele, wie es nach Ron Paustians Ungeduld hätte sein können. Bis sich herumsprach, dass Ron mit dem Wacken-Open-Air zusammenarbeitet – ein Gütesiegel in der Szene. „Inzwischen melden sich gut zwei-, dreimal am Tag Interessierte. Sie werden begrüßt und in der Datenbank vermerkt“, erklärt Ron Paustian. Eingesetzt werden sie, sobald sie gebraucht werden. Bei Konzerten, bei der Wattolympiade oder beim Mittelalterfestival – und natürlich bezahlen sie als Helfer*innen keinen Eintritt.
Der Name „Inklusion muss laut sein“ ist Programm. „Denn nur wer laut ist, wird auch gehört!“ Ron Paustians Ansatz kommt ohne erhobenen Zeigefinger aus. Von diesem Konzept fühlen sich viele unterschiedliche Menschen angesprochen. „Vom Metallhandwerker bis zum Doktor ist so alles vertreten bei uns. Sie alle sagen, ein paar Stunden im Monat haben wir Zeit.“ Deswegen sind die Ehrenamtlichen auch mehr als „nur“ Helfer. Vielmehr versuchen auch sie, Ron Paustians Idee weiterzubringen.
„Es geht nicht nur um Rampen“, sagt Paustian, „ich finde, es sollte auch im Inklusionsbereich viel mehr Menschen geben, die sagen: Wir helfen da – nicht nur bei Konzerten, genauso in Ämtern und anderen Alltagsbereichen.“
Einen Behindertenbonus lehnt das Team ab. „Teilhabe ist eben Gleichstellung: Es muss egal sein, ob ich im Rollstuhl sitze, ob ich blind bin, ob ich schwarz, gelb, grün, eine Frau bin, welche sexuelle Ausrichtung oder kirchliche Neigungen ich habe. Das muss völlig egal sein“, sagt Ron Paustian.
Neben Ehrenamtlichen baut Ron Paustian außerdem ein Adressverzeichnis mit medizinisch ausgebildeten Assistent*innen auf, damit auch gelähmte oder Beatmungspatienten betreut werden können. IMLS unterstützt bedarfsgerecht: „Das heißt, ein Rollstuhlfahrer, ein Gehbehinderter, ein Blinder schreibt uns an, füllt das Kontaktformular aus, gibt an, wo er gern hinmöchte, was für ihn oder sie wirklich gemacht werden muss und was er sich wünscht. Dann schlagen wir mehrere passende Begleiter vor. Das ist immer individuell zugeschnitten.“ Auf der „MS Stubnitz“ sind die Barrieren die steilen Treppen, Türschwellen und der schmale, wacklige Steg, der nicht durch eine Rampe ersetzt werden kann, weil sich das Schiff bewegt.
Deshalb tragen hier die Ehrenamtlichen mit ihrer Muskelkraft die Leute hoch. „Das ist das Einzige, was man tun kann“, sind sich René, Oz und Ron einig.
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Begrenzte Mittel und trotzdem nicht verbissen
Seinem Musikgeschmack ist er in all den Jahren treu geblieben. Doch vor drei Jahren beschloss Ron Paustian mehr zu tun als nur Begegnungen innerhalb des Metalbereichs: „Ich wollte ganz grundsätzlich mehr für die Rechte von Behinderten tun. Eben auch für Fans von Helene Fischer. Oder die Wildecker Herzbuben, wenn jemand das will. Oder für Sportveranstaltungen, Theater- und Kinobesuche.“
Deswegen ist IMLS unterdessen eine im Handelsregister anerkannte gemeinnützige Organisation geworden. Trotzdem bleiben 90 Prozent der Tätigkeiten ehrenamtlich, Ron Paustian und sein Team verdienen nach wie vor nichts. Immerhin darf IMLS jetzt Fördergelder beantragen und Spendenquittungen ausstellen, was vieles erleichtert: „Denn als Rentner sind meine finanziellen Mittel doch sehr beschränkt.“ Ron Paustian blickt aufs Wasser und schweigt kurz. Um gleich zu ergänzen: „Aber: Es läuft ja.“
Was mit einem persönlichen Anliegen begann, ist dies geworden: eine Kampagne für Teilhabe der zehn Millionen, die bisher noch zu unsichtbar sind. „Ich möchte gesellschaftlich etwas verändern, und ich möchte das ohne Druck tun. Ich möchte durch Anpacken zeigen, dass es geht.“ Ron Paustian sagt solche Sätze mit einem leicht spöttischen Grinsen. Inklusion muss laut sein – aber nicht verbissen.
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