Kritik der Woche: Benno Schirrmeister über „Werther“ am Goetheplatz: Warten auf den Suizid
Und wenn schon. Auch als Redaktionsbeauftragter für Frankophilie – sich über die Bremer Aufführung von Jules Massenets „Werther“, Oper nach Goethes Briefroman, in Bremen zu freuen, klappt nicht. Der Komponist Massenet war auf der Schwelle zum 20. Jahrhundert in Frankreich extrem erfolgreich; dennoch hat sich die Musikwissenschaft für ihn kaum interessiert.
Aus guten Gründen: Die Melodien seiner zahllosen Opern sind harmonisch so unterkomplex, wie Schlagersongs. Ihre Rhythmik bleibt durch die Bank banal. Und Massenets technisch durchaus anspruchsvolle Arien sind eingängig aber nicht einprägsam, weil er sie aus den damals kursierenden Komponierfloskeln ganz auf Wirkung gebrauchsfertig zusammengeschraubt hat.
Im „Werther“ nutzt er, wohl um die deutsche Herkunft des Stoffs zu referenzieren, auch Wagner-Versatzstücke wie den Tristan-Akkord. Das klingt pathetisch und ähnlich hohl wie die gedankenfreien Reden, die Massenet im letzten Teil seiner Memoiren abgedruckt hat: Erinnerungen eines Mannes aus Seife, der Musik mehr als Geschäft oder als Dienstleistung betrieben hat, denn als Kunst, über die sich nachzudenken lohnen könnte.
Hausregisseur Felix Rothenhäusler inszeniert Massenets Werther dabei erfreulich emotionsarm, im Grunde gegen die Musik. Er entkernt die Bühne, setzt das Orchester hoch und schaut mit heutigen Augen auf die Personen. Der Titelheld ist ein prolliger Stalker: In einem Catch-Ring ohne Seile bedrängt, mit toller animalischer Aggression, Luis Olivares Sandoval, die sich teils energisch mit Tritten wehrende, teils sich ihm willig und erregungskeuchend fügende Nadine Lehner.
Den fabelhaften Peter Schöne rempelt Sandoval im plastischsten Halbstarken-Modus an: Gaststar Schöne singt mit brillant rechthaberischer Klarheit Charlottens hilflosen Ehemann Albert. Auch ist seine französische Aussprache die korrekteste. Dazwischen zwitschert, mit einigen Schärfen in den Höhen, Marysol Schalit als Sophie, die von den französischen Librettisten zwecks Vervollständigung des symmetrischen Schemas erfundene lebensfrohe Schwester der melancholischen Charlotte.
Das ist, was im 1. Akt passiert, und auch musikalisch liegt damit alles an Ideen vor. Der Rest des Abends heißt Warten auf den Suizid, der, die Handlung setzt im Juli ein, auch zugleich mit dem Christkind dann eintritt.
Unterdessen bleibt nur übrig, in der jeweiligen Gefühlssauce der Personen mitzuköcheln. Oder eben auszuharren. Denn irgendwie packende Interaktion gibt es nicht, und Duette finden nicht statt. Jeder in diesem Werk singt für sich allein, nur ihren Schlusston singen Werther und Charlotte gemeinsam, drüsenmelkend und plakativ, unisono beifallheischend. Das ist das glatte Gegenteil eines aggressiven Programms der Gegenstandslosigkeit, um das die tiefgründigsten ästhetischen Debatten jener Epoche kreisen: Es ist Gegenstandslosigkeit, die auf gefällige Weise Substanz simuliert, some call it Kitsch. Und der spartanische Zugriff Rothenhäuslers macht das gnadenlos sichtbar. Wozu man den alten Kitsch auf den Spielplan hebt, erklärt das nicht.
Wieder am: 29. und 31. Mai, 3., 11., 15. Juni, 19.30 Uhr, Theater am Goetheplatz
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