Die Wahrheit: Die Meerjungfrauenkrankheit
Ein Rendezvous, das beim Arzt beginnt, verheißt nicht selten Seltsames…
E s war kein Wunder, dass ich sie bei Doktor Funk kennenlernte, denn ich war jung, Hypochonder und verbrachte mehr Zeit bei Ärzten als in Hörsälen der Uni. Sie kam mir auf der Treppe entgegen, als ich die Praxis verließ, und ich verlor mich sofort in ihren eigenartig verfärbten Augen, in denen die Augäpfel ozeanblau schimmerten, während die Iris so weiß war wie ein frisch gespülter Mensateller.
Unten wartete ich auf sie. „Was ist das für eine seltsame Krankheit?“, sagte ich. Sie zuckte die Schultern. „Doktor Funk meint, dass ich in den Ferien vielleicht zu viel im Meer gebadet habe, und hat es vorerst die Meerjungfrauenkrankheit genannt.“ Ich fragte sie, ob ich sie auf einen Kaffee zu mir nach Hause einladen dürfe. Sie lächelte und sagte: „Gern, aber vielleicht ist es ansteckend“ – doch ich kicherte nur und zog sie davon.
Sie blieb bei mir, und wir waren glücklich. Kaum aber hatte sie sich von dem Leiden erholt, war ich es, dem zwei grotesk verfärbte Augen aus dem Spiegel entgegenblickten. Zugleich setzte ein Rauschen in meinem Kopf ein. „Das Meeresrauschen der Meerjungfrauen“, dachte ich und fand es ein bisschen peinlich, dass ich eine Mädchenkrankheit bekam. Doch da wurde das Rauschen zum Stampfen einer Dampflok, und das Letzte, das ich sah, waren zwei aus meinen Nasenlöchern aufsteigende Rauchsäulen.
Als ich wieder zu mir kam, blickte ich ins Gesicht von Doktor Funk. „Sehr seltsam“, murmelte er und wedelte den Dampf weg. Dann wandte er sich an sie. „Wir brauchen einen Spezialisten“, sagte er: „Aber was für einen? Augenarzt? HNO? Oder doch einen Eisenbahnmechaniker?“ Er seufzte. „Ich muss nachdenken. Geben Sie ihm Kamillentee, heiße Milch mit Honig, Aspirin, was weiß ich“, sagte er, ehe er uns verließ.
Die Symptome verschwanden wieder, und unser Glück hielt an. Drei Tage später erwischte es dann wieder sie: Augenverfärbung, Nasendampf, zudem wuchs ein grüner Moospelz auf ihren Ohren. Doktor Funk brachte seinen Autoschrauber und einen Botaniker mit, doch die zwei waren genauso ratlos wie er und konnten sich nicht einigen, ob sie zu Nähmaschinenöl oder vorsichtigem Jäten raten sollten.
So ging es weiter. Alle paar Tage warf uns die Krankheit nieder, die Zahl der Symptome wuchs und Funk brachte Vulkanologen, Hypnotiseure oder Existenzialphilosophen mit, die das Tragen von Rollkragenpullovern empfahlen. Eines Tages jedoch kam er wieder allein. Er wedelte euphorisch mit einer Zeitschrift und rief: „Ein anderer Fall von Meerjungfrauenkrankheit! In Brasilien! Und der Kollege hat erfolgreich mit Kümmelessig behandelt!“
Es wirkte tatsächlich. Wir tranken den Essig und waren schlagartig geheilt. Allerdings saßen wir jetzt meist stundenlang auf dem Sofa, schauten Fernsehsendungen, die uns nicht interessierten, und als sie mich an einem Samstag Zigaretten holen schickte, obwohl sie gar nicht rauchte, wusste ich, dass sie nicht mehr da sein würde, wenn ich zurückkäme. Aber das war mir egal.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!