: Mutige Kinder, hohe Berge, tiefer Schnee
SCHELLEN-URSLI Der Bilderbuchklassiker aus dem Schweizer Engadin in den Originalfarben und einem sehr schönen Band zusammengefasst
VON EVA-CHRISTINA MEIER
Alegra“, begrüßt der Fahrer des Schweizer Postbusses auf Rätoromanisch die Fahrgäste am Bahnhof von Scuol. Danach führt die Fahrt durch das Inntal bald steil hinauf über enge, kurvige Straßen und endet in einem der umliegenden Dörfer des Unterengadins. Die Fassaden der alten Häuser sind mit geritzten Zeichnungen, den traditionellen Sgraffiti, verziert. Auf dem zentralen Platz fließt eiskaltes Wasser ins ausladende Brunnenbecken. Hier sieht es aus wie in einem der bekanntesten Schweizer Kinderbücher – dem „Schellen-Ursli“.
Tatsächlich hatte dessen Autorin, die Montessori-Pädagogin Selina Chönz, 1939 den Maler und Grafiker Alois Carigiet überredet, nach Guarda zu kommen, um in dem kleinen Dorf nahe Scuol die Erzählung vom Ursli zu illustrieren. Denn darin geht es um den „Chalandermarz“. Nach altem Brauch vertreiben in der romanischsprachigen Schweiz am 1. März die Kinder mit Schellen und Glocken lautstark den Winter und begrüßen den Frühling. Sie ziehen von Haus zu Haus und erhalten dafür in ihren Glocken Süßigkeiten – früher waren es „Nüsse, Schnitz und Kuchenbrocken“.
In Selina Chönz’ in Versform verfasster Geschichte bleibt für den kleinen Bauernsohn Urs allerdings nur ein winziges Glöckchen übrig. Damit müsste er am Ende des Umzugs gehen und bekäme von den süßen Gaben nichts ab. „Urs lässt sich nicht als Kälbchen treiben; er will kein Schellen-Ursli bleiben!“ Und so beschließt er, ganz allein den schneereichen Aufstieg hoch zur abgelegenen Alm der Familie der Maiensäss zu wagen. Dort oben hofft er, endlich eine ansehnliche große Glocke zu finden, um so beim Umzug vorn mit den Großen mitlaufen zu können und der demütigenden Rolle des „Schellen-Ursli“ zu entkommen.
Während der sechs Jahre, die Carigiet sich in Guarda bis 1945 aufhielt, um an diesem Kinderbuch zu arbeiten, studierte er sehr genau die Eigenheiten der dörflichen Umgebung. Durch viele in Szenen festgehaltene Details – der Architektur, Innenräume, Kleidung, Werkzeuge, Feste und Speisen („Kastanienribel und geschwungnen Nidel“) erfährt man ganz nebenbei sehr viel über das bäuerliche Leben der Region dieser Zeit.
Ursli muss auf dem Hof den Eltern helfen, sich um die Tiere kümmern, Verantwortung übernehmen. Es sieht kalt aus auf den Zeichnungen von Carigiet, und leicht kann man sich vorstellen, wie die Füße in den genagelten Schuhen frieren. Trotzdem versteht jedes Kind auch aus der Stadt sofort, was diesen kleinen Jungen aus den Bergen umtreibt – wenn er seine Angst beiseiteschiebt, um allein loszuziehen.
Bis heute wurden über zwei Millionen Exemplare des Schweizer Kinderbuchklassikers verkauft und zahlreich übersetzt. In den ersten Jahren als Photochromdruck aufwendig hergestellt, veränderten in den folgenden Auflagen neue Reproduktionen immer wieder Farben und Bildausschnitte des Buchs. Nun aber ist eine Spezialausgabe erschienen, die wieder die Originalillustrationen zur Vorlage nimmt. In dieser „Engadiner Trilogie“ finden sich neben dem „Schellen-Ursli“ zwei weitere unverwechselbare Bilderbücher von Selina Chönz und Alois Carigiet. Auch sie erzählen von Episoden aus dem (Kinder-)Leben in den Bergen des Unterengadins: So handelt „Flurina und das Wildvöglein“ auch von der Zeit zwischen Frühling und Herbst, die Flurina und ihr Bruder Ursli mit den Eltern auf der Maiensäss zum Arbeiten verbringen.
In „Der große Schnee“ planen Flurina und Ursli, den Schlitten für die winterliche Kinderschlittenfahrt mit „Wollenzötteli“ zu schmücken. Also muss Flurina raus in den Schneesturm, um im nächsten Dorf Schmuck bei einer Wollspinnerin zu besorgen. Auf dem Heimweg wird Flurina von einer Lawine verschüttet. Doch dank der bunten Wollgirlanden kann Urs den Weg zu seiner Schwester finden und sie aus dem Schnee befreien. Am nächsten Tag feiern die Kinder ihr großes Schlittenfest: „Und erst beim hellen Mondenschein ziehn alle mit den Schlitten heim.“
■ Alois Carigiet (Illustration), Selina Chönz (Text): „Das große Buch vom Schellen-Ursli: Schellen-Ursli. Flurina und das Wildvöglein. Der große Schnee“. Orell Füssli, Zürich 2012, gebunden, 120 Seiten, 52 Euro
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