leuchten der menscheit vonChristiane Müller-Lobeck: Rigorismus, Abwägung und die Spuren von Moral
Heute geht es hier um „Zuwanderung und Moral“. Nicht nur dort, wo man hinschaut, auf den Deal der Kanzlerin mit Erdoğan. Den finden nicht wenige verderbt. Den Deal vor allem, den türkischen Staatschef aber auch.
Konrad Ott hat ein Buch mit dem eingangs genannten Titel geschrieben (erschienen bei Reclam, 2016). Es ist eine enorm unterhaltsame Revue der Debatten des letzten Jahres. Der Kieler Philosoph untersucht die ausgetauschten Positionen auf Spuren von Moral und nimmt allergische Reaktionen in den Blick.
Warum das? Ott sieht in den Debatten einen clash of morals am Werke. Von Max Weber leiht er sich die Unterscheidung in Gesinnungs- und Verantwortungethik, um die aufeinanderprallenden Positionen zu definieren. Das ist natürlich ein Trick. Denn schon Max Weber traf die idealtypische Unterscheidung, um das, was er Verantwortungsethik nannte, gegenüber der Gesinnungsethik zu privilegieren, Letztere also mit einem Lächeln im Gesicht ordentlich abzuwatschen. Gesinnungsethisch nennt Weber all diejenigen Positionen, die bestimmte moralische Grundhaltungen rigoros vertreten, religiöse wie etwa christliche Moralisten. Verantwortungsethiker würden hingegen nicht gesinnungslos, jedoch pragmatisch abwägend, ausgleichend und folgenorientiert handeln.
Übertragen auf den Türkei-Deal: Wo Verantwortungsethiker überlegen, was gemessen an der Ausgangssituation und den Folgen bei Nichteingreifen (Transitländer haben ihre Grenzen geschlossen, es kommen weiter Flüchtlinge, Griechenland droht unter der Last der Ankommenden zusammenzubrechen) das richtigste sein könnte, halten Gesinnungsethiker an ihren Prinzipien („Alle Menschen haben ein Recht auf Migration in ein Land ihrer Wahl“ und „Despoten reicht man nicht die Hand“) fest. Rigorismus versus Abwägung – Otts Sympathien liegen auf Hand.
Vor drei Jahren veröffentlichte der kanadische Philosoph Joseph Carens sein Buch „The Ethics of Immigration“, das bald zu einer Art Bibel der Open-Borders-Bewegung avancierte. Otts hält mit dem schmalen Bändchen „Zuwanderung und Moral“ nun dagegen. Im zentralen Kapitel „Das ‚open border‘-Argument auf dem Prüfstand“ knöpft er sich Carens’ Migrationsethik vor.
Der Kanadier argumentiert, da man rein zufällig in einem bestimmten Land geboren würde, seien die Bürgerrechte ein Privileg. Und wenn zu diesen Bürgerrechten das Recht auf Freizügigkeit gehöre und Artikel 13 der Menschenrechtskonvention von 1948 für alle Menschen ein Recht auf Freizügigkeit festschreibe, gelte folglich für alle Menschen weltweit das Recht, sich an einen beliebigen Ort zu bewegen.
Artikel 13 ist aber, erinnert Ott, nicht als Menschenrecht, sondern nur als Bürgerrecht formuliert: „Jeder Mensch hat das Recht auf Freizügigkeit und freie Wahl seines Wohnsitzes innerhalb eines Staates.“ Man kann das schärfer kritisieren als Ott. Denn wenn Carens’ Ableitung falsch ist, bedeutet das, dass das angenommene Recht aller Menschen auf die Wahl ihres Aufenthaltsorts in nichts als Glauben begründet ist.
Wie man sich überhaupt eine stärkere Zuspitzung gewünscht hätte. Ott hat sich zu sehr auf zwei widerstreitende Formen von Moral verengt, die er als Verantwortungsethiker gern beide mit im Boot hätte. Nicht, dass er von Politik nicht spräche, und davon, dass Verantwortungs-, anders als Gesinnungsethiker annehmen, dass nicht alle Menschen ihre Moral teilen (müssen).
Aber wenn man einen Schritt weitergeht, kann man sehen, dass Verantwortungethiker im Grunde in erster Linie Politiker und nicht Ethiker sind: Sie setzen ihre moralischen Überzeugungen nicht absolut, sie suchen nach Kompromissen zwischen verschiedenen Positionen, sie haben Kräfte- und Mehrheitsverhältnisse im Blick. Gesinnungsethiker können nur appellieren. Oder sich gewaltsam durchsetzen.
Die Autorin lebt als freie Journalistin in Hamburg Foto: privat
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