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Winterliche Sonnenstrahlen

SYNTHIEPOP Ein Lichtblick: das lyrische Album „January Sun“ der jungen Russin Kedr Livanskiy

Wie warm sind die Sonnenstrahlen im Winter, wenn sie den Moskauern bei Minusgraden ins Gesicht scheinen? Gerade mal eine Stunde Sonnenschein sind es im Durchschnitt zu Jahresbeginn und trotzdem oder gerade weil es fortan schleichend wärmer wird, widmet Kedr Livanskiy der „January Sun“ ihr Debütalbum, das vor Kurzem auf dem Brooklyner Label 2MR erschienen ist.

Yana Kedrina, wie Kedr Livanskiy bürgerlich heißt, wurde kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion geboren. Die Regiestudentin ist Teil einer jungen Szene, die sich um das Moskauer Künstlerkollektiv „John’s Kingdom“ gebildet hat. Und jene Leichtigkeit, die sie in den Songs und Videos ausstrahlt, verwundert und fasziniert. Ist Russland medial doch allzu oft unter den Negativschlagzeilen gelistet – etwas Zartes wie Livanskiy erwartet man da nicht.

Wenn ihr die Realität zu langweilig wird, kreiert sie ihre eigene. Das Projekt Kedr Livanskiy, auf Deutsch: „Libanesische Zeder“, wandelt zwischen Pop und House – ohne zu kitschig oder zu tanzbar zu sein. „Meine Musik ist der Soundtrack zu meiner idealen Welt.“ Die Tracks der ersten EP verweilen in einer Zwischenwelt. Dunkle Klangkollagen treffen auf liebliche Melodien.

Die 26-Jährige singt in ihrer Muttersprache. Das Album erinnert an die Anfangszeit der kanadischen Künstlerin ­Grimes und die Band Braids. Kedrina, die eine Punkvergangenheit und Banderfahrung hat, begann 2013, Texte zu dichten und mit dem Computerprogramm Ableton zu komponieren. Ganz ähnlich wie eine Reihe von Sängerinnen und Produzentinnen, etwa Oklou aus Paris, wurde auch Kedrina durchs Netz bekannt.

Die Bässe beim Auftaktsong „Razrushitelniy Krug“ (Destructive Cycle) setzen nach einer Weile ein, der Track baut sich auf, dann beginnt Kedrinas verschwommener Gesang, über der verträumten Grundmelodie zu schweben. Im Text kreist sie um sich selbst – es geht um einen zerstörerischen Kreislauf. Sie klingt energetisch, nicht jedoch resigniert, wie man beim Titel vermuten könnte. In „Sgoraet“ singt sie über die Liebe und im Titelsong „January Sun“ über den großer Stern, um den wir uns drehen.

Ein Song, dessen Ruhe fast unangenehm berührt, aber durch die auffällige Basslinie getragen wird, ist „Winds of May“. Er klingt zwischendurch wie eine Schallplatte, die zu lange in der Sonne lag. Hört man genauer hin, ist zu bemerken wie Kedr plötzlich vom Russischen ins Englische wechselt. Sie bedient sich beim gleichnamigen Gedicht von James Joyce, das von unerfüllter Liebe handelt und mit dem Vers „Love is unhappy when love is away“ abschließt. Bevor es zu düster wird, liefert Kedrina mit „Otvechai Za Slova“ (Keep your Word) noch ein Stück, das die Hörer mit Trillerpfeifen aus der Gedankenversunkenheit zurückholt. Im Finale „April“ läutet sie durch Vogelgezwitscher den Frühlingsanfang ein.

„January Sun“ ist digital produziert. Einige Songs wurden vom Band digital rückgekoppelt. Auf neueren Aufnahmen setzt Kedrina die Drummaschine TR 606 ein. Dass sie in ihrer Jugend von MTV geprägt wurde, merkt man ihrer Soundästhetik an: Für russische Verhältnisse wirkt sie sehr westlich. Was sie singt, mag in direkter Übersetzung furchtbar süß klingen, ist es jedoch nicht, denn sie driftet ins Lyrische.

Kedr Livanskiy macht jugendlich schönen Pop – rhythmisch, harmonisch, melodisch –, ihr Sound wird gebrochen durch das Einfließen verschiedener Musikstile wie Drum ’n’Bass. Zudem spielt sie geschickt mit unterschiedlichen Tempi. Ihre Songs bestechen durch simple Harmonien, trotzdem sind sie nie trivial, denn Livanskiy baut formschöne House-Elemente ein. Natalie Mayroth

Kedr Livanskiy: „January Sun“ (2MR/Captured Tracks/Cargo)

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