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Wo das geosoziologische Gesetz gilt

MEERENGE Mit ihrer Mammut-Dokumentation „Chamissos Schatten“ ergründet die Filmemacherin Ulrike Ottinger die abgelegene Polarregion um die Beringstraße: Teil drei ist am Sonntag im HKW zu sehen

Je feindlicher eine Gegend, desto freundlicher ihre Bewohner Foto: Ulrike Ottinger

von Helmut Höge

Auf die Frage einer Zuschauerin, ob sie aus ihrer fast zwölfstündigen Dokumentation über die Beringstraße eine Kurzfassung mache, damit sich mehr Leute diesen tollen Film ansehen, antwortete die Regisseurin Ulrike Ottinger: „Man weiß so wenig über diese Region zwischen Sibirien und Alaska, dass man sich ruhig mal etwas gründlicher mit ihr befassen kann.“

Dies gilt vor allem für Westdeutsche, in der DDR fuhren immer mal wieder Abenteuerlustige bis an die Grenze des Ostblocks auf die Tschuktschen-Halbinsel und erzählten lichtbildgestützt davon. Und nach 1989 verpflichteten sich auch einige Künstler als Lehrer für dort oben – und wollen gar nicht mehr weg, denn es gilt da das geosoziologische Gesetz: je menschenfeindlicher eine Gegend, desto menschenfreundlicher ihre Bewohner.

Erste Forscher

In der DDR wurden die ersten Berichte der Erforscher der Region um die Beringstraße, Adelbert von Chamisso, Georg Wilhelm Steller und James Cook, veröffentlicht und sozusagen die letzten Geschichten von dort: die wunderbaren Romane des Tschuktschen-Schriftstellers Juri Rytcheu. Wal- und Robbenjagden spielen darin eine wichtige Rolle. Und sie sind heute noch wichtiger geworden, da Tschuktschen und Inuit seit Auflösung der Sowjetunion wieder auf ihre ursprüngliche Subsistenzwirtschaft zurückgeworfen wurden und die am Festland lebenden Rentierhirten wieder aufs Nomadisieren.

Die sowjetischen Nomadenschriftsteller Aitmatow und Tschinag waren ebenso wie Rytcheu entsetzt über diesen Rückschritt, der die kleinen „nordischen Völker“ ebenso unvermittelt traf wie der durch die Bolschewiki erzwungene Fortschritt. Ulrike Ottingers Film „Chamissos Schatten“ zeigt unter anderem, wie ungeübt junge Tschuktschen noch immer beim Walfang sind: Zwar gelang es ihnen mit zig Schüssen, das Tier zu erlegen, dann ließen sie es untergehen.

Ulrike Ottinger fuhr zuletzt auf einem russischen Forschungsschiff, um zur Wrangelinsel zu gelangen, wo vor allem Eisbären und Polarfüchse leben

Die Alten kennen wenigstens noch Volkstänze und -lieder, in denen die ihnen wichtigen Tiere – Wale, Robben und Raben etwa – thematisiert werden, und sie führten sie der Regisseurin auch gern vor, erzählten aus ihrem Leben und zeigten stolz ihren Fischfang, etwa Kabeljau und Lachs. Ansonsten besteht der Film aus langen, ruhigen Aufnahmen von Buchten, Bergen, Vogelfelsen, Stränden, Wellen und immer wieder von rostigen Tonnen und verblichenen Walknochen. Obendrauf gelegentlich Zitate aus Ottingers Tagebuch und den Expeditionsberichten von Chamisso, Steller und Cook. Dazwischengeschnitten: Aufnahmen von Fellstickereien in den kleinen Museen der Region, dazu Bilder, Zeichnungen und alte Fotos.

Schöne Inuitfrauen

In einigen größeren Siedlungen und vor allem in Anadyr, der Hauptstadt der Tschukotka, überrascht eine neue Moderne: bunte, saubere Wohn- und Geschäftshäuser, riesige Wandposter von schönen Inuitfrauen, goldene Kirchen und asphaltierte Straßen. Zurückzuführen auf das Wirken des Multimilliardärs Roman Abramowitsch, der acht Jahre lang Gouverneur der Tschukotka war, bevor er sich in London dem Fußballclub FC Chelsea widmete. Ulrike Ottinger fuhr zuletzt noch auf einem russischen Forschungsschiff, um zur Wrangelinsel zu gelangen, wo vor allem Eisbären und Polarfüchse leben. „Zuletzt“ betraf nur den zweiten Teil ihres Films, „Tschukotka“, der am Sonntag im Haus der Kulturen der Welt gezeigt wurde, was insgesamt sieben Stunden dauerte. Die Woche davor war der erste Teil, „Alaska Aleuten“, zu sehen, und diesen Sonntag folgt der dritte Teil: „Kamtschatka und Beringinsel“.

„Kamtschatka und Bering­insel“. Regie: Ulrike Ottinger (D 2016), 174 Min. Sonntag, 13. März, 16.00 Uhr, Haus der Kulturen der Welt. Danach Gespräch mit der Regisseurin

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