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Archiv-Artikel

Wenn der Körper sich erinnert

FANTASIE Mit Imaginationen können Erkrankte ihre Symptome lindern. Mitunter zumindest. Der Arzt Wolfgang Loesch hilft ihnen dabei

„Vieles, was im Körper abläuft, wird mit Sprache nur ungenau beschrieben“

WOLFGANG LOESCH

VON WALTRAUD SCHWAB

Langstrecken schrecken Wolfgang Loesch, Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Facharzt für Allgemeinmedizin, 68 Jahre alt, nicht. Langlauf, Schwimmen, Fahrradfahren, 35 Kilometer am Tag – kein Problem.

Auch als Arzt hält er durch. In den letzten 25 Jahren hat er eine Methode weiterentwickelt, die Menschen, die schwer erkrankt sind – an Krebs, an multipler Sklerose, an anderen Autoimmunerkrankungen – Chancen gibt, ihre Lebensqualität zu verbessern und die Symptome zu lindern. „IKP“ heißt die Methode kurz. Die Langform: „Imaginative Körper-Psychotherapie als psychosomatisches Verfahren in der komplementären Psychotherapie somatisch kranker Patienten“.

Zu Loesch und den anderen etwa hundert Ärzten in Deutschland, die diese Methode anwenden, kommen Kranke, die neben der Schulmedizin, der Apparatemedizin, der Pharma-Medizin noch etwas tun wollen, was sie selbst zu Handelnden macht. „Ich wollte nicht nur ohnmächtig sein“, sagt eine Frau mit Brustkrebs, die in einer Gruppe zusammen mit anderen Imaginative Körperpsychotherapie macht. „Ich will Hoffnung“, sagt eine andere.

Wer IKP macht, muss mitarbeiten wollen. Jeden Tag. In tiefenentspanntem Zustand begeben sich die Patienten auf eine Gedankenreise, die sie die kranken Prozesse in ihren Körpern wahrnehmen lassen. Dann sollen sie versuchen, das, was sie wahrnehmen, in Bilder zu übertragen und entsprechend der biologischen und körperlichen Abläufe, die eine Krankheit heilen könnten, weiterzuspinnen. Das klingt kompliziert.

Um es besser zu verstehen, geben einige Patienten und Patientinnen Einblick in die Arbeit. Im lichtdurchfluteten Therapieraum in Loeschs Praxis in Potsdam erzählt etwa ein Vierundvierzigjähriger seine Geschichte: Vor drei Jahren ist er an einem aggressiven Gehirntumor erkrankt, der nicht vollständig entfernt werden konnte. Eigentlich ein Todesurteil, denn die Wahrscheinlichkeit, dass der Tumor weiter wächst, ist sehr hoch. In den letzten drei Jahren jedoch ist das nicht eingetreten. Der durchtrainierte Mann geht davon aus, dass dies auf die Imaginative Körperpsychotherapie zurückzuführen ist. Der Patient versetzt sich täglich in einen tiefenentspannten, achtsamkeitsbasierten Zustand und imaginiert seine Heilung. In seinen inneren Bildern sieht er Piranha-Schwärme, die – ähnlich wie die im Körper für das Immunsystem wichtigen Makrophagen und Helferzellen – eine komplexe Schulung durchmachen, damit sie mit List auch die Blut-Hirn-Schranke überwinden, um die Attacke auf die Tumorzellen leisten zu können. In der Milz werden die Zähne der Piranhas geschärft, in der Thymusdrüse werden sie medizinisch geschult – all diese Szenarien stellt sich der Mann in tiefenentspanntem Zustand vor.

Piranhas, so die erste Reaktion der Journalisten, die die Gruppenkonsultation beobachten, seien doch aggressiv. Der Arzt indes stellt klar, wer hier eine Gefahr ist: die Tumorzellen nämlich in ihrer ungebremsten Vermehrung. Die müssen radikal eliminiert werden. Auch in der Vorstellung.

Medizinisches Wissen ist eine Voraussetzung für die Imaginative Körperpsychotherapie. Jeder trage Krebszellen in sich, sagt Loesch. Ein funktionierendes Immunsystem schaltet sie aus. Was aber genau passiert, wenn eine Krebszelle anfängt, sich zu teilen, und nicht mehr daran gehindert wird, das müssen die PatientInnen wissen, um die Gegenmodelle in ihrer Imagination richtig steuern zu können.

Krankheit ist eine Tatsache

PatientInnen, bei denen wiederum das Immunsystem zum Aggressor wird – etwa bei multipler Sklerose – müssen andere Abläufe, wie die Neubildung zerstörter Nervenzellen durch Stammzellen, imaginieren. Davon berichtet eine junge Frau, die an derseltenen Immunkrankheit „Systemischer Lupus erythematodes“ erkrankte, bei der die Immunzellen anfangen, die Organe anzugreifen. Den Lupus – lateinisch für: Wolf – trägt die Krankheit im Namen. In der Fantasie der jungen Frau geht es darum, das Tier zu zähmen.

Der Therapeut begleitet die PatientInnen, fragt nach, bringt medizinisches Fachwissen ein, um die inneren Bildsequenzen zu leiten. Bei Krebs beispielsweise sei es gut, wenn die Immunorgane durchblutet werden, nicht aber die Tumore. Mit der Imaginationsmethode ist es möglich, lokale Überhitzungen zu erreichen. Erst wenn eine gesundheitliche Stabilisierung eingetreten ist, wird die psychotherapeutische Arbeit intensiviert, die den Krankheitsursachen auf den Grund geht.

Loesch verwehrt sich dabei vehement gegen die Idee, dass jemand, der den Gesundungsverlauf durch komplizierte Imaginationsprozesse beeinflussen kann, möglicherweise umgekehrt es auch selbst gesteuert hat, dass er krank geworden ist. Im Zusammenhang mit Krebserkrankungen wird diese Debatte immer wieder geführt. „Blödsinn“, meint der Arzt. Krankheit und Schuld zusammendenken zu wollen, führe in eine Sackgasse. Krankheit sei in erster Linie eine Tatsache. „Und niemand will eigentlich krank sein.“

Angefangen hat Loesch mit der Imaginationstherapie in der DDR. Seine erste Patientin war eine Frau, die 24 Stunden lang am Sauerstoffgerät hing, weil ihre Lungen verhärtet waren. „Versuchen Sie mal Sauerstoff in der DDR aufzutreiben. Fast unmöglich. Da hätte man doch eine Explosion mit herbeiführen können.“ 1988 hätte er sich von der Frau verabschiedet, weil er auf einen psychosomatischen Kongress fuhr. „Finden Sie etwas für mich“, sagte sie, „ich will noch nicht sterben.“

Auf dem Kongress wurde über Heilverfahren mit Imagination bei chronisch Kranken gesprochen. Ärzte aus Jena und Stadtroda berichteten über erstaunliche Erfolge, die sie mit diesem vom Amerikaner Carl Simonton beschriebenen Verfahren hatten. Loesch probierte die Methode mit der lungenkranken Frau aus und war selbst überrascht, als sie wieder auf die Beine kam. „Die Leute, die IKP machen, müssen leben wollen“, sagt er.

Neue Forschungen belegen, dass Placebos wirken, weil sie biochemische Prozesse im Körper in Gang setzen – die therapeutisch geleitete Imagination steht in einem ähnlichen Wechselspiel mit dem Körper.

Mit jedem Patienten verfeinerte Loesch die Methode, arbeite heraus, was die Patienten tun müssen und wie er sie begleiten kann. Dass die Imagination etwa gestärkt werden kann, indem die Bildsequenzen zusätzlich mit der nicht dominanten Hand gezeichnet werden. Warum? „Weil vieles, was im Körper abläuft, mit Sprache nur ungenau beschrieben wird.“

Wirksam, aber unerforscht

Über tausend Patienten und Patientinnen hat Loesch bisher betreut. Erfolgsgeschichten kann er erzählen, neue Patienten nicht aufnehmen. Warum dann der Artikel? Weil er Psychotherapeuten animieren will, seine Methode zu lernen. Sie ist bei Krankenkassen als Möglichkeit in der Psychotherapie abrechenbar. Die Erfolge waren zu groß. Er hätte reich werden können, Guru sein. Heilung gegen Geld. Diese Geschichte. Aber das ist gegen Loeschs Grundsätze. „Ungleichheit in der Medizin finde ich ungeheuerlich.“ Jeder, der zu ihm fand, wurde betreut. Auch heute weist er Leute nicht ab – er versucht aber, sie weiterzuleiten, an KollegInnen, die ebenfalls mit der Methode arbeiten. Es gibt sie.

Thilo Hoffmann, Chef der psychosomatischen Klinik in Halle, arbeitet manchmal mit IKP. Er ist überzeugt, dass die Methode bei Patienten, die bereit sind, so intensiv mitzuarbeiten, wirksam sei. Er bedauert aber, dass sie so schlecht erforscht sei. Auch Birgit Rogahn, Psychologin in Halle, wendet sie an. Das Geniale an der Methode, sagt sie: dass sie das Körpergedächtnis anspreche. „Diese Methode greift auf die körperlichen Erfahrungen vor der Krankheit zurück. Dadurch wird das Gesunde aktiviert.“

Mit umgekehrtem Zeitblick greift die Psychotherapeutin Renate Hochauf in Altenburg auf die Methode in der Traumatherapie zurück. Sie könne damit die „Hierpräsenz“ stabilisieren. „Wenn jemand eine Traumatisierung erlebte, dann kann es sein, dass er lange nichts davon weiß. Bestimmte Stresssituationen aber können die traumatische Erfahrung wieder wach rufen“, sagt sie. „Dann reagiert unserer Gehirn mit den damaligen Schockwirkungen.“ Das ergebe ein dissoziiertes Körpergefühl. „Parallel zur Imagination der Traumaerfahrung kann dann über die Wahrnehmung des aktuellen Körpererlebens eine Hier-Präsenz erarbeitet werden. Diese kann der Dissoziation entgegengesetzt werden“, sagt sie.

Alle, die mit IKP arbeiten, entwickeln die Methode weiter. „Ich denke, sie hat Hand und Fuß“, sagt Hoffmann, „aber das lässt sich schwer nachweisen. Loesch ist Praktiker, der hat einfach gemacht. Es wäre aber gut, wenn es dazu mehr Forschung gäbe.“

Das treibt auch Wolfgang Loesch um. Forschungsanträge bei der Deutschen Forschungsgesellschaft sind gestellt. Und er ist auf der Suche nach NachfolgerInnen. Dazu hat er ein Lehrinstitut gegründet. Selbst nämlich würde er gern irgendwann seine 70-Stunden-Woche verkürzen. „Das Alter“, sagt er. „Das Alter.“

Das Buch über Loeschs Arbeit stammt von Tino Erstling von der Landesarbeitsgemeinschaft Onkologische Versorgung Brandenburg e. V. „Krebs mit inneren Bildern behandeln: Selbst aktiv etwas tun“ erschien 2011 im Param Verlag