: Große Aufregung, hohe Geschwindigkeit
Bühne Unterstützt durch das Bühnenbild, kombiniert Karin Henkel in ihrer Inszenierung von Eugène Labiches Stück „Die Affäre Rue de Lourcine“ von 1857 für das Deutsche Theater Spieltrieb und Seziermesser
von Katrin Bettina Müller
Als die Regisseurin Karin Henkel vor zwei Jahren mit Kleists Verwechslungskomödie „Amphitryon“, die sie in Zürich mit wunderbarer Leichtigkeit inszeniert hatte, zum Theatertreffen nach Berlin eingeladen war, zeigte auch die Regisseurin Susanne Kennedy aus München ein Stück: „Warum läuft Herr R. Amok“. Kennedys Handschrift ist ungewöhnlich kühl, die Schauspieler verschwinden hinter Masken, die Räume sind minimalistisch, oft kaum wahrnehmbare Filmprojektionen legen sich über den Bühnenraum, weichen seine Konturen auf.
Beide Regisseurinnen sind interessiert daran, die Apparatur des Theaters, den dramaturgischen Bau, in seine Einzelteile zu zerlegen und mit ein wenig Politur, ein paar Verdrehungen, neu zusammenzusetzen und zu schauen, was passiert. Die Wirkung ist oft erstaunlich, als schaue man ein Stück plötzlich nicht nur von einer Seite, der des Publikums, an, sondern blicke zugleich auf die Rückseite und in seinen inneren Mechanismus. Und gerade dieser technische Blick auf die Konstruiertheit des Textes offenbart etwas über den Kontext seiner Entstehung, den Erwartungshorizont der Gesellschaft.
Karin Henkel hat jetzt für das Deutsche Theater in Berlin „Die Affäre Rue de Lourcine“, eine Komödie des französischen Vielschreibers Eugène Labiche von 1857, inszeniert. Und plötzlich scheint es, als hätte sie zu dem eigenen Spieltrieb noch das Seziermesser von Susanne Kennedy hinzugenommen. Wir sehen zwar eine Komödie über einen Biedermann, der nach einer durchsoffenen und erinnerungslosen Nacht einen schrecklichen Vormittag durchlebt, gejagt von der Angst, einen Mord begangen zu haben. Die Aufregung ist groß, die Geschwindigkeit hoch, der Theaterapparat rast, die Drehbühne ist in Bewegung, fast jede Figur von Doppelgängern verfolgt, Szenen wiederholen und überholen sich. Und trotzdem sind die Bilder auch von Anfang an stillgestellt, kalt wie eine Leichenhalle, mechanisiert wie ein Krematorium. Denn tatsächlich hat die Bühnenbildnerin Henrike Engel die Wohnung und das Schlafzimmer des Unglücksvogels Oscar Lenglumé wie ein Krematorium eingerichtet.
Samt Rampe oder Rutsche, über die nach und nach auch so einiges an Leichen schliddern wird. Sie kommen zustande, um vermeintliche Zeugen des ersten Mordes, den Oscar begangen zu haben glaubt, auszuschalten. Nicht er selbst sticht zu, sondern sein Komplize Mitstingue, eine etwas aufgequollene, verschmuddelte und proletarische Version seiner selbst. Es ist sehr praktisch für Oscar, dass dieser Mistingue wie aus dem Nichts auftaucht, um die Drecksarbeit zu übernehmen. Beide verbindet eine große Nase, ein altertümliches Requisit, das sie zu Nachfahren der Narren aus der Commedia dell’Arte werden lässt. Michael Goldberg und Felix Goeser spielen dieses Doppel, erheitern mit ihrem Wettbewerb an Blödigkeiten, ihrem Grübeln über die verschwundene Nacht, ihrem Erschrecken über die Indizien, die sie eines Mordes überführen, ihren idiotischen Plänen der Vertuschung. Ein Schuh, der Verschwinden soll, wird erst halb aufgegessen, dann auf den Grill gelegt. Diese beiden ungewaschenen Komplizen übertrumpfen sich erst an Einfältigkeit, bald an Gemeinheiten, das macht Spaß wie im Kasperletheater. Dass keiner sich da selbst trauen kann, ist super deutlich.
Oscars Ehefrau, Norine, gibt die Schauspielerin Anita Vulesica groteske Konturen. Kantig agiert sie in dem Versuch, die Normalität, die bürgerliche Konvention, aufrechtzuerhalten. Dass ihr Mann, an dessen Unfähigkeit, sich auch nur ordentlich anzuziehen, sie langsam verzweifelt, mit reichlich kriminellen Mitteln das gleiche Ziel verfolgt, bekommt sie nicht mit.
Der eigentliche Skandal liegt in dem großen Aufwand, den Oscar betreibt, um die Fassade aufrechtzuerhalten. Aber das ist dann auch schon alles, was das Stück zu erzählen hat, und das ist dann doch, der tollen Besetzung und dem witzigen Spiel zum Trotz, am Ende etwas wenig.
Wäre da nicht das Bühnenbild, das von Anfang auf Tod eingestellt ist, in den Auf- und Abgängen die Rampe und Klappe zum Krematoriumsofen nutzt und über alles die ständig drohende Präsenz der finalen Ruhe legt. Als ob sich die ganze Aufregung, die ganze furiose Heuchelei am Ende doch nur mit dem Ziel abspielen würde, möglichst nichts zu verändern, alles zu lassen wie immer, Glück nur im Stillstand zu finden. Ein gruseliger Gedanke.
Wieder am 20. und 22. Januar, 15. + 24. Februar
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