: Ätsch, bätsch, reingefallen!
Bühne Allenfalls halb gelungener Doppel-Dostojewski in München: „Schuld und Sühne“ im Volkstheater stiehlt dem lauten „Spieler“ an den Kammerspielen die Show
VON Sabine Leucht
Es gibt diesen Moment in Christopher Rüpings Inszenierung von Dostojewskis „Der Spieler“: Anna Drexler und Thomas Schmauser sind nach wie vor träge vom eingangs skizzierten Phlegma der russischen Aristokratie. Im Ohr klingeln noch die Sklavensprüche Aleksej Iwanowitschs – und der Hass, den Polina dem jungen Hauslehrer ihrer Stiefgeschwister entgegenschleuderte. Aber gerade jetzt sind sie zitternd und weich einander zugeneigt. Alles ist möglich! Doch der Moment verfliegt wie ein paar wenige andere schöne – und es dauert noch fast 200 Minuten, bis die Einstandsinszenierung des künftigen Hausregisseurs der Münchner Kammerspiele ausgestanden ist, die so laut ist und angestrengt albern, dass die Wirkung manch kluger Setzung verpufft.
Jonathan Mertz hat auf der Bühne der Kammer 1 den Zuschauerraum fortgeschrieben, indem er etwa den Handlauf der Balkone über den Köpfen der Schauspieler weiterzog. Der Ort, an dem sich Dostojewskis Personal in die Abgründe des Glücksspiels stürzt, ist hier im übergreifenden Sinne einer des Spiels. Und es erzählen vier Kinder, weil sie das mit dem Spielen sowieso besser können. Sie toben zwischen Umzugskartons herum und gehen wunderbar furchtlos auf die Schauspieler zu, die sie buchstäblich ins doppelte Spiel hineinziehen. Doch dann versuchen die Profis, sie zu übertrumpfen. Sie spielen Kinder. Und das geht schief. Sie grunzen, schmatzen und versohlen einander mit gelben Schwimmnudeln die Hintern. Ein völlig entfesselter Schmauser gibt kreischend die Erbtante, die (statt durch ihr Ableben der Familie die Zukunft zu sichern) alles Geld im Kasino verspielt oder (als Aleksej?) seine Mitspieler am Schnürboden aufhängt, wo sie die ganze Pause über bleiben müssen. Ätsch, bätsch, reingefallen!
Verlaufen wie im Leben
Christopher Rüping ist eben mal 30, so heftig umworben wie umstritten und mit seiner Stuttgarter Version des Dogma-Films „Das Fest“ bereits bis zum Theatertreffen gekommen. Ihm reiche es, sagte er vor der Premiere, wenn Theater „zwanzig tolle Minuten oder Sekunden hat und zwei Stunden dafür oder dagegen arbeitet. Ich mag Theater, das sich verläuft und darin ist wie das Leben.“
Und es stimmt ja auch, dass Dostojewski sich im „Spieler“, den er während der Arbeit an „Schuld und Sühne“ (und aus der Not heraus, selbst Spielschulden begleichen zu müssen) binnen 26 Tagen seiner künftigen Frau diktierte, auch selbst ein wenig verläuft – zwischen vielen kleinen Histörchen über die verderbliche und vermeintlich lebensspendende Wirkung des Geldes, seine eigene Spielsucht und enttäuschte Liebe. Aber auch diese verliert der Abend zwischen all dem Gealbere aus dem Blick. Zur noch jungen Ära Matthias Lilienthals passt das allerdings bestens, der dem Deutschlandfunk gegenüber erklärte, er plane, in München einige Dinge „so anarchistisch zusammenzuschmeißen, dass daraus eine Form von Spaß entsteht“.
Die Anarchie ist schon da! Bloß stellt sich der Spaß dadurch nicht automatisch ein. Dafür verschieben sich die Verhältnisse in der Stadt derzeit auf unvorhergesehene Weise. Denn der Zufall wollte es, dass das Volkstheater kurz vor der „Spieler“-Premiere mit Dostojewskis „Schuld und Sühne“ aufwartete. Es war bislang immer das junge, oft bis zur Kindischkeit verspielte Theater Münchens. Und sein Intendant Christian Stückl ist auch noch immer nicht der „intellektuellste und analytischste“ der hiesigen Theatermacher, wie der Münchner Merkur anlässlich der Premiere geschwärmt hatte; und sein Dostojewski ist auch nicht der große Wurf. Dafür geschieht zu wenig zwischen den Figuren, dazu fehlt einigen Schauspielern schlicht das Format.
Doch Stückl macht entschieden das Optimale aus seinen Mitteln, während die Kammerspiele die ihren verschwenden. Seine Dialogversion des Romans fokussiert streng dessen Hauptfigur Raskolnikow, der es „außergewöhnlichen“ Menschen erlauben will, anderen das Leben zu nehmen, wenn es die Durchsetzung einer großen Idee erfordert. Raskolnikow denkt an Napoleon und Mohammed – und ermordet eine alte Wucherin und deren Schwester. Und wo der „Spieler“-Clan nach dem Geld hungert, das alle Schuld zu tilgen verspricht, muss er die seine abbüßen und (bei Dostojewski) dafür bis nach Sibirien gehen.
Bei Stückl und seinem Stammbühnenbildner Stefan Hageneier aber bleibt er in einer Art Studenten-WG und begegnet seinen Dämonen in Gestalt von über ein umgelegtes Hamsterrad flirrenden Bildern, die gerade so konkret sind, dass man einige der heutigen Krisenherde assoziiert. Diese Bühne und das fiebrig-fahrige, zwischen tatenhungrigem Intellektuellen und Amokläufer changierende Spiel des erst 24-jährigen Paul Behren stehlen allein schon dem ganzen „Spieler“ die Show.
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