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Gott zählt die Lider

Die Handelskammer zeigt teils idyllische, teils schonungslose Aufnahmen des litauischen Fotografen Romualdas Pozerskis

von Petra Schellen

Litauen, das ist das Land von Pikoll und Patrimpe. Vom Donnergott Perkunas und der mysteriösen Marfa, die schon Johannes Bobrowski in den 60ern gedichtweise besang. Litauen, das war vor dem Zweiten Weltkrieg auch ein Völkergemisch aus Litauern, Juden, Polen und Deutschen, die oft jahrzehntelang unkompliziert zusammenlebten in jenem Land, das das einzig katholische im Baltikum ist.

Wie die Letten sind die Litauer Nachfahren der im 17. Jahrhundert vom Deutschen Orden ausgerotteten Pruzzen. Deren nicht christliche religiöse Praktiken wollten die Kreuzritter vernichten; ganz gelungen ist es ihnen nicht: Nicht nur in der Literatur schweben nach wie vor mythologische Gestalten durch Gedanken und Träume der Menschen – auch die Schwarzweiß-Fotografien des 1951 geborenen Romualdas Pozerskis, dessen Arbeiten derzeit in der Handelskammer zu sehen sind, atmen Mythos und Religion. Unterscheiden muss man allerdings zwischen Stadt und Dorf, wenn sich auch vielleicht nur eine Nuance schiebt zwischen den Barock von Vilnius und die vor einer ländlichen Holzkirche kniende Menschenmenge.

Und doch zeichnen einige von Pozerskis‘ Fotos, zwischen 1973 und 2003 entstanden, ein Land, das eher bäuerlich-rückständig als modernes EU-Mitglied ist. Vielleicht hat der Künstler ihn aber auch bewusst beschritten, jenen Grat zwischen ohne Brechung zelebriertem ländlichem Leben und der aus zerfurchten Frauengesichtern sprechenden Sozialkritik. Pragmatisch, abgearbeitet und resigniert präsentiert sich etwa jenes Paar, das auf einem Friedhof vermutlich umgegraben hat; außer Erschöpfung ist nichts geblieben, das Gemeinsamkeit fundieren könnte. Spuren entbehrungsreicher Leben zeigen auch die Gesichter einer Masse alter Bäuerinnen in der Kirche. An die sozialkritische Prosa der litauischen Bäuerin Julija Zemaite erinnern solche Szenen – an jene Autodidaktin, die Ende des 19. Jahrhunderts Erzählungen über das durch Hierarchien und Patriarchat komplett vorgezeichnete Leben von Frauen in der bäuerlichen litauischen Gesellschaft veröffentlichte.

Fröhlichkeit atmen auf den Fotos Romualdas Pozerskis‘ allenfalls die Kinder, die sich perfekt zu fügen scheinen in das bäuerliche Idyll. Doch auch Momente höchst subtiler Zartheit sind zu finden, wenn der Künstler einen fast ätherischen Schimmel vor einer Lichtung wandeln lässt. Als hätte der Schöpfer nachgezählt, ist der Fotograf jedem einzelnen seidig-weißen Lidhärchen gefolgt.

Andererseits arbeitet der Künstler durchaus mit Anspielungen auf Gemälde der italienischen Renaissance – etwa in jenen „Bathseba im Bade“-ähnlichen Szenen, in denen er durchschnittlich ästhetische Frauen im Fluss zeigt. Und wie Pan höchstselbst ersteht anderswo ein Mann aus klaren Wassern.

Nicht weit davon eine leise Hommage an die Beweinung Christi des Manieristen Andrea Mantegna, der in einer für die damalige Zeit höchst gewagten perspektivischen Verkürzung auf den füßlings präsentierten Christus blickte. Romualdas Pozerskis hat das Prinzip umgekehrt und zwei auf einer Wiese liegende Kinder kopfüber am vorderen Bildrand platziert. Der Fluchtpunkt ist also vorne, während sich die sich weitende Perspektive irritierend in den Bildhintergrund hinein öffnet.

Sie sind dem Fotografen vertraut, diese Szenarien, die der Tourist nur bedingt wahrnehmen kann – und doch schaut Pozerskis in der Serie „Gardens of Memory“ selbst latent touristisch auf vergangene Zeiten, wenn etwa eine Menschenkette einen mit Holzkreuzen gespickten Hügel umtanzt – wer weiß, ob auf diesem Berg nicht einst die alten Götter wohnten. Die heiligen Orte jedenfalls sind vermutlich geblieben, der Friedhof als zentrales Fotomotiv auch – wenn sich auch „heilig“ dort weniger exklusiv definiert als hierzulande: In den Schatten eines Grabsteins haben sich zwei kleine Jungen sommers gesetzt; eine andere Szene geriert sich als Ehrfurcht gebietendes Genrebild: Direkt neben einem einsamen Grabstein schläft ein Mann, als wolle er jemanden bewachen. Spät erst bemerkt man, dass eine geleerte Flasche Alkohols am Fuß des Grabsteins steht.

Sich im Idyll zu verlieren war indessen nicht Ziel des Fotografen, zumal die Hamburger Schau, vergleicht man sie mit einem früheren Ausstellungskatalog, zu Unrecht eine so hohe Zahl bäuerlicher Idyllen zeigt: „Last Home“ heißt zum Beispiel eine schonungslose Serie, die unter anderem zwei durch Alter und Krankheit stark entstellte Männer zeigt. Anderswo blicken zwei hochbetagte, leicht verwahrloste Frauen zum Betrachter. Doch trotz solch eigenartiger Voyeurismen gibt es auch die Zartheit des vermeintlich Hässlichen, die sich in Aufnahmen wie Der Kuss geschlichen hat: Kaum ästhetisch wirkt die rundliche, mit einem ärmlichen Kittel bekleidete Frau, die sich zu ihrem Hund hinabbeugt, der ihr Gesicht leckt; es bereitet ihr Schmerzen, sich zu bücken, aber die zärtliche Geste ist es ihr wert.

Und wie um den Zweifel an der Tauglichkeit gängiger Normen abzurunden, wird die Schau von einer Serie gekrönt, die „Freud und Leid des kleinen Alfons“ heißt: Gewöhnungsbedürftige Porträts eines kleinwüchsigen, inzwischen 70-jährigen Freundes des Fotografen sind hier zu sehen, die zart und zugleich voyeuristisch wirken. Dabei aber spielt der Fotograf geschickt mit der Option der Serie, verschleiert sogar gelegentlich den Unterschied zwischen Alfons und der Größe der Welt, wenn der kleine Mann mit seiner Ziege in den Sonnenuntergang wandert. Und einen winzigen Moment lang ist man nicht mehr sicher, ob die vermeintliche Abweichung von der Norm dort nicht eher auf der verqueren eigenen Blick-Erwartung beruht.

Mo–Do 9–17, Fr 9–16 Uhr, Handelskammer, Adolphsplatz 1; bis 18.11.

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