Verabredung im Massagesalon „Chinese Success”
: Zwei Sorten Giraffen

Bridge & Tunnel

von Ophelia Abeler

Ich finde heute kein Thema, oder aber ich habe nur Themen angesammelt, die mir angesichts dessen, was gerade in der übrigen Welt los ist, völlig unwichtig erscheinen. Dem Albtraum von Paris fühle ich mich nicht gewachsen, ist auch nicht meine Zuständigkeit, die Flüchtlingskrise genauso wenig; weder werde ich diese aus New York lösen können noch die Radikalisierung der sogenannten besorgten Bürger aufhalten. Wir haben zwar ein Batmankostüm im Schrank, aber leider ist es kaputt, man kann gar nicht fliegen damit, hat mein Sohn entsetzt zu Halloween festgestellt.

Deutschland hat mal wieder den Spaltpilz, bei den einen zersetzt er das Herz, bei den anderen das Hirn, bei manchen beides, und ich habe keine Lösung, nur eine Deadline und Rückenschmerzen und der chinesische Massagesalon „Chinese Success“ um die Ecke hat noch genau eine Dreiviertelstunde auf.

Auf dem Weg dorthin summe ich zu meiner eigenen Überraschung ein paar Zeilen aus einem Lied der Gruppe Fön, „Solche und solche“ heißt es; es muss sich vor Jahren unbemerkt bei mir eingenistet haben und hat sich jetzt also diesen Moment ausgesucht, um hervorzukommen. „Es gibt zwei Sorten Giraffen: die mit Unfall und die, die gaffen. Es gibt zwei Sorten von Fröschen: die, die zündeln und die, die löschen.“

Sehr richtig, denke ich, aber hoffentlich wird das jetzt kein Ohrwurm, während der Massage sollte mir besser endlich ein gutes Kolumnenthema einfallen. Aber keine Gefahr, im Salon läuft Beethoven, und zwar echt, also keine Synthievariante, die dann auch noch mit Wassergeplätscher unterlegt ist, es klingt zwar, da es sich um eine besonders schmalzige Interpretation der Violinromanze Nr. 2 in F-Dur op. 50 handelt, nach Vanessa Mae, aber immerhin.

Beethoven lief auch gerade eine Woche lang in der Carnegie Hall, alle Sinfonien, die Berliner Philharmoniker waren nämlich im Rahmen ihrer Tournee zu Gast, und unter anderen Umständen würde ich hier einfach davon erzählen, wie schön das war. Ich hatte mich seit Monaten darauf gefreut, ein Freund spielt im Orchester, es gibt kaum Schöneres, als ihm bei der Arbeit zuzuhören und zuzusehen. Als die Massenmörder in Paris ans Werk gingen, waren die Berliner Philharmoniker gerade von dort nach Wien weitergereist, was ich aber nicht genau wusste und erst einmal mit zittrigen Fingern googeln musste.

Das Konzert fand natürlich im großen Saal statt, dem Isaac Stern Auditorium, die Bühne dort ist nach Ronald O. Perelman benannt. Die Namensliste der Förderer der Carnegie Hall besteht aus vielen Cohens, Kornblaus, Greenspans und Tenenbaums, und plötzlich vermisste ich die Metalldetektoren und das Flughafen-Security-Gehabe, das mich noch zwei Wochen zuvor beim Judas-Priest-Konzert in einem riesigen Stadion in New Jersey genervt hatte. Ein Sicherheitsmann verlangte zwar, in meine Minaudière zu gucken, in die ja schon mein Telefon kaum hineinpasst, aber das hatte etwas eher Halbherziges.

Am Mittwoch vor den Terroranschlägen hatte ich mir noch beim Konzert der französischen Sängerin Christine and The Queens in der Webster Hall, die sogar noch fünf Jahre älter ist als die Carnegie Hall, das Quasinichtvorhandensein von Security gelobt und heimlich bei mir gedacht, kaum kommen Europäer, ist alles viel cooler.

Beim dritten, unendlich melancholischem Satz von Beethovens Neunter fuhr es mir in die Knochen, schüttelte mich die Trauer um all die Toten von Paris, die vielen Götterfunken erloschen. Durch keine Ode an die Freude wieder zu entfachen.

Als die Chinesin die heißen Steine holt, die zum Schluss auf den Rücken gelegt werden, und mich mütterlich zudeckt, frage ich mich, ob sie wohl als Kind den Berufswunsch Masseurin hatte. Das in mir persönlich am stärksten nachhallende Kulturereignis dieses Novembers ist das Stück „Before your very eyes“ des Berliner Kollektivs „Gob Squad“ am Public Theater. Man schaut sieben Kindern/Teenagern im Zeitraffer beim Altern zu, es geht gleich damit los, dass (wir) alle gesagt kriegen, „Ihr seid hier, und dann sterbt ihr.“ Und dann wird man gnadenlos daran erinnert, dass man zu Beginn seines Lebens noch glaubt, Herr seiner Zukunft zu sein, und wie einem dann aber das Leben scheinbar nur so passiert, und bumms, steht man auf seiner sehr schlechten Geburtstagsparty zum Vierzigsten und es ist einfach nur zum Heulen.

Wobei meine Sitznachbarn sich fast totlachten, besonders als die gespielt Vierzigjährigen mit ihren Interviews als ungefähr Neunjährige konfrontiert wurden, in denen sie sich ausmalen, was sie mal werden wollen und so. „Selbstmordattentäter“ war da nicht dabei.

Ophelia Abeler ist Kulturkorrespondentin der taz in New York