Qual Unser Autor kann nicht mehr lesen. Als Junge pflückte er die Sätze, jetzt klagt ihn der Stapel der ungelesen Bücher in seinem Zimmer an. Lohnt sich lesen überhaupt noch?: Jeder Satz ein Schmerz
von Felix Dachsel (Text) und Martina Wember (Illustration)
Ich habe das Lesen verlernt. Die Buchstaben verschwimmen. Ich lese und fühle mich verloren in einem Ozean an Text: “Ulysses“von James Joyce, nur wenige Seiten gelesen, weggelegt. “Der Verlorene“von Hans-Ulrich Treichel, für sehr unterhaltsam befunden, abgebrochen, weggelegt. Die Zeilen vibrieren, die Zwischenzeilen kommen mir entgegen, ich ertrinke im Text und blättere vor, ich zähle Kapitel: Wie lang noch? Ich will schlafen.
Ein Buch über die Bundesliga, „Spieltage“, nicht reingekommen, abgebrochen, verstaubt. Noch 44 Seiten: Ich blättere vor und zurück. Michel Houellebecq, „Plattform“, durch die Seiten geschleppt, keuchend, früh kapituliert. Da steht ein Stapel auf dem Tisch, unangenehm herausfordernd; die noch zu lesenden Bücher. Er wächst zum Turm von Babel an. Er steht da und mahnt. Bücher haben neuerdings die seltsame Fähigkeit, im ungelesenen Zustand moralischen Druck auf mich auszuüben. Der Stapel schreit mich an: Lies mich! Ich schreie zurück: Sei still! Ich denke an Elke Heidenreich. Sie hatte mal eine Sendung im ZDF. Die Sendung hieß: LESEN! Lesen. Ausrufezeichen. Ein deutscher Imperativ. Ich denke an Schulbänke, Kreidestaub und Zwang.
Ich sitze in einem Café und öffne die App von Spiegel Online. Es ist ein Reflex wie niesen oder husten: Ich scrolle auf und ab, bestelle Kaffee. Ich öffne die App, ohne zu wissen, warum. Ich wische mich durch Bildergalerien: Eine Klickstrecke über den Zauberer Houdini, Bilder von Flüchtlingen, Bilder von Borussia Dortmund, Donald Trump. Ich schaue auf, wische weiter, breche ab: Ich habe das Lesen verlernt.
Ich habe ein Bild im Kopf: Der Junge mit der Taschenlampe. Er sollte eigentlich schon schlafen. Unter der Bettdecke liest er stattdessen: „Winnetou“, „Harry Potter“, Astrid Lindgren, ein „Lustiges Taschenbuch“. Er liest, als gehe es um Leben und Tod. Er erobert das Reich der Fiktion, sein Finger liegt auf dem Papier, Zeile für Zeile verleibt er sich Sätze ein, Orte, Welten, Menschen, Gerüche, Lichter. Ich verstehe diesen Jungen nicht, er ist so weit weg: Was hält ihn an den Zeilen? Warum schläft er nicht? Ich denke: Geh schlafen, Junge. Mach das Licht aus. Schlafmangel macht dumm.
Ich greife zum Lexikon: da stehen für das Wort „Lesen“ mehrere Bedeutungen. Erstens: Lesen im Sinne von „abnehmen, aufheben, auflesen, aufnehmen, aufsammeln, ernten, pflücken“. Zweitens: Lesen im Sinne von „einen Text mit den Augen und dem Verstand erfassen“.
Der Junge mit der Taschenlampe erntet, als bereite es ihm keine Schwierigkeiten: Schwebend pflückt er Satz für Satz, er liest Buch für Buch auf, und je mehr er liest, desto größer wird sein Antrieb. Ich lese und stocke dabei. Ich fühle mich wie ein alter Mann bei der Apfelernte: Ich hebe die Sätze auf. Jeder Satz ein Schmerz. Ich strecke mich nach den Früchten, mein krummer Rücken tut weh. Ich zähle die Seiten: Wie viele noch? Als sei lesen eine lästige Pflicht.
Als ich pubertierte, gaben mir Bücher ein Versprechen. Das Versprechen auf Trost. Und sie lösten es ein. Ich badete im warmen Kitsch von Herrmann Hesse, zitterte bei Dürrenmatts „Versprechen“, beneidete Homo Faber um seinen Hut und dafür, dass er in New York Frauen küsste und auf einem Dampfer nach Europa fuhr. Ich feierte fantastische Landgewinne. Das spendete Trost. Der Trost war so real, dass auch die Orte und Menschen, die fiktiv waren, real wurden. Realer als die Realität. Heute schlage ich ein Buch auf und sehe nichts als ein Buch: Papier, Seiten, Zeilen, Zeichen. Ich lege es weg – auf den Stapel noch zu lesender Bücher.
Ich saß neulich mit Kopfschmerzen im Zug. Vor mir saß eine Mutter mit zwei Kindern. Sie las aus einem Kinderbuch vor. Sie tat das in einer Lautstärke, dass jeder im Abteil vom kleinen Frosch und seinen Freunden erfuhr. Dann verstellte die Mutter ihre Stimme, sie las jetzt mit Froschstimme. Sie quakte, als gebe es kein Morgen – mit der fröhlichen Selbstgerechtigkeit einer Vorlese-Mama. Ich legte mir einen Satz zurecht: Entschuldigen Sie, können Sie leiser lesen? Entschuldigung, ich versuche zu schlafen. Entschuldigen Sie, Frau Frosch, können Sie aufhören zu quaken? Ich blieb sitzen und sagte nichts.
Ich flüchte mich neuerdings in Amazon Instant Video. Ich schaue die Serie „The Affair“. Ich beneide den Protagonisten um sein markantes Kinn und um seine Wohnung in New York. Er heißt Noah und hat ein paar Probleme, weil er sich im Familienurlaub auf Montauk in eine Kellnerin verliebt. Noah ist verheiratet und hat Kinder. Die Kellnerin ist auch verheiratet, heißt Alison und hat dunkle Ränder um die Augen. Sie ist schön und negativ. Noah und Alison schlafen miteinander in verlorenen Hotelzimmern an verlorenen Orten in einer verlorenen Welt. Noah ist ein Vorbild männlicher Einsamkeit. Alison ist gleichzeitig depressiv und hungrig nach Leben. Ich mag Noah und Alison: Sie sind mir nah. Jede Folge von „The Affair“ spendet Trost.
Das letzte Buch, das mich nicht schlafen ließ, das ich mitnahm in Straßenbahnen und Fernbusse und erst abends aus der Hand legte, wenn meine Augen tränten vor Müdigkeit, war eine Autobiografie. Ein Freund hatte mir das Buch im Frühjahr zum Geburtstag geschenkt, wir standen vor der Uni; noch im Stehen las ich die ersten Sätze: Pep Guardiola, mein Trainer in Barcelona, mit seinen grauen Anzügen und seiner ständigen Grübelmiene, kam zu mir und sah gequält aus. Ich fand ihn in Ordnung damals, nicht gerade ein Mourinho oder Capello, aber er war okay. Dies war, lange bevor wir anfingen, Krieg zu führen.
Das Buch handelt vom wundersamen Leben des größten Fußballers unserer Zeit. Es trägt den angenehm eindeutigen Titel „Ich bin Zlatan Ibrahimović„: Ein Junge, etwas zu groß und etwas laut, armes Elternhaus, bosnischer Abstammung, wächst im schwedischen Malmö auf, zwischen blonden und zurückhaltenden Kindern. Es hätte tausend Arten gegeben, wie sein Leben hätte scheitern können: Er provoziert, macht Sprüche, klaut Fahrräder. Doch Zlatan hat den Ball und einmaliges Talent. Scouts werden aufmerksam, er wechselt für Rekordsummen von Malmö zu Ajax Amsterdam, von Amsterdam zu Turin, von Turin zu Inter Mailand, von Inter Mailand zu Barcelona. Immer begleitet von Mino Raialo, einem dicken, unverschämten Italiener, seinem Berater: einem Genie. Und von einem Selbstbewusstsein, das ihm viele als Arroganz auslegen.
Das Buch funktioniert wie eine gute Serie: Die handelnden Figuren sind so unterhaltsam und faszinierend, dass man möglichst viele Tage mit ihnen verbringen will, sie sind schillernd und groß. Man schließt mit ihnen Freundschaften auf Zeit, begleitet sie auf ihre Abenteuer. Auf der letzten Seite hatte ich das Gefühl, eine Urlaubsbekanntschaft ein letztes Mal in den Arm zu nehmen. „Ich bin Zlatan“ war ein Glücksfall. Eine seltene Freude, die kaum den Stapel der ungelesenen, abgebrochenen, der für irgendwann einmal vorgenommenen Bücher aufwog.
Im vorletzten Sommer habe ich an wenigen Tagen alle Folgen von „Homeland“ geschaut. Carrie Mathison ist die Heldin der Serie: Eine CIA-Agentin mit bipolarer Störung, die unter dem Eindruck der Anschläge vom 11. September 2001 nahezu alles tut, um ihr Heimatland zu beschützen. In der zweiten Staffel steht sie irgendwann auf einem Dach in Beirut. Sie will die Frau eines Hisbollah-Offiziers treffen, eine Informantin. An ihrer Seite ist ihr Kollege Saul, ein amerikanischer Jude mit graumeliertem Bart. Er ist so etwas wie ein väterlicher Freund.
Carries Zustand ist schlecht, Heulkrämpfe überkommen sie. Carrie ist angetrieben von der Angst, dass es einen zweiten 11. September geben könnte – und dass sie ein zweites Mal Hinweise auf einen Anschlag übersieht. Sie rast so verloren durch das Land. Sie steht in den Gängen der CIA-Zentrale in Langley. Sie trägt schwarze Hosenanzüge und trinkt Kaffee aus großen Pappbechern. Sie rast durch ein Land der Weizenfelder. Helikopter kreisen über den Feldern. Von Folge zu Folge hoffte ich mehr, dass sich Carrie bei ihrem Wettlauf gegen die Zeit nichts und niemand in den Weg stellt, weder ein Vorgesetzter noch das Gesetz.
Sie ist Agentin der CIA, des mächtigsten Geheimnisdienstes der Welt. Sie hat alle technischen Möglichkeiten. Aber sie ist schwach und verletzlich wie ein Kind, getrieben von Verlustängsten, zersetzt von Haltlosigkeit und auch: auf der Suche nach Liebe, Nähe, nach Schutz. Sie ertränkt sich in Alkohol und Tabletten.
Ich sehe den Bücherturm, er schreit mich an, ich frage ihn: Warum unterhältst du mich nicht, wie mich Carrie unterhält? Lohnt sich lesen überhaupt? Wäre eine Welt denkbar, in der man nicht lesen muss?
Dann denke ich an: Mietverträge, Reisewarnungen, Sicherheitshinweise, Gebrauchsanweisungen, Straßenschilder, Strafzettel und Zeitungsmeldungen. Wir müssen offenbar lesen, um uns in dieser Welt zu orientieren. Auf der einen Seite.
Auf der anderen Seite: Für den Notfall, wenn es ums Überleben geht, haben wir längst Lösungen gefunden, die ohne Lesen auskommen. Wenn in einem öffentlichen Gebäude ein Brand ausbricht, dann suchen wir nach einem leuchtenden Schild. Es ist grün und zeigt ein fliehendes Strichmännchen. Wenn wir in der Werkstatt eine Flasche finden, auf der ein Totenkopf prangt, sind wir gewarnt. Und im Flugzeug ist es ein Comic, der uns die Sauerstoffmaske erklärt. Symbole sind nutzerfreundlich. Sie vermeiden Umständlichkeiten, mit denen uns täglich Mietverträge, Verordnungen, Beipackzettel und Romane quälen. Das Symbol hat nur ein Ziel: Es will verstanden werden.
Texte haben unendlich viele Möglichkeiten, dieser Verantwortung zu entgehen. Warum erklärt uns ein Handyanbieter unseren Vertrag nicht audiovisuell? Er wäre gezwungen, jeden Winkelzug, jede Hintertür, jede Fußnote zu verbildlichen. Texte kennen Relativsätze, Nominalkonstruktionen, Fremdwörter. Sie begegnen uns mit der Selbstgerechtigkeit des geschriebenen Wortes: Wenn du mich nicht verstehst, ist es deine Schuld. Ich schaue den Bücherturm an und sage: Sprich klar und deutlich! Hör auf zu schwurbeln. Denke daran, dass du verstanden werden willst. Sonst bist du verzichtbar. Und weil ich unsicher bin, ob mich der Bücherturm versteht, erzähle ich ihm eine Geschichte.
Im Jahr 1963 erhielt der Werbegrafiker Harvey Ball von einer amerikanischen Versicherungsgesellschaft den Auftrag, einen Ansteckbutton zu entwerfen. Der Button sollte die Mitarbeiter des Konzern motivieren und positiv stimmen. Harvey Ball zeichnete einen Kreis, malte ihn gelb aus und setzte in die Mitte des Kreises zwei Augen und einen lachenden Mund. Ball hatte in diesem Moment das Smiley erfunden. Gut 50 Jahre später prägt das lachende Gesicht die Ikonografie des Internets. Aus dem Smiley hat sich inzwischen eine eigene Sprache entwickelt: die Sprache der Emoticons. Eine Sprache ohne Wörter, international verständlich, in Sekunden erlernbar. Siehst du, Bücherturm, es geht auch ohne Worte. Der Bücherturm bleibt stumm. Kein Wort zu Harvey Bell. Kein Wort zu „Homeland“ und „The Affair“. Buch, du bist ersetzbar.
In gewisser Hinsicht ähnelt die Serie dem Buch. Das On-Demand-Prinzip lässt uns entscheiden, wann und wo wir welche Folge gucken. Wenn Netflix eine neue Staffel von „House of Cards“ online stellt, dann schließen wir uns ein und schauen, gefesselt und süchtig und ohne Pause, wie wir früher Karl May gelesen haben oder „Harry Potter“. Es gibt für dieses Verhalten einen vielsagenden Begriff: Binge Watching. „Binge“ steht für „Gelage, Besäufnis, Exzess“. Binge Watching klingt nach Binge Eating, einer Essstörung mit periodischen Heißhungeranfällen. Die Faszination der Serie wird pathologisiert. Während die Faszination des Lesens noch immer romantisiert wird: der Bücherwurm, die Leseratte, der Junge mit der Taschenlampe, der die Abenteuer des Tom Sawyer liest.
Anfang des Jahres präsentierten Wissenschaftler der Universität Austin in Texas die Ergebnisse einer Studie, die einen Zusammenhang zwischen Depressionen und Binge Watching herstellt. Depressive Menschen tendieren laut Studie eher zum suchthaften Serienkonsum als Nichtdepressive. Einige amerikanische Medien griffen die Studie auf. Dabei liegt die Antwort, warum Menschen Verabredungen absagen, warum sie die Rollläden herunterlassen, warum sie vergessen zu frühstücken, während sie eine neue Staffel ihrer Lieblingsserie schauen, so nahe: Weil sie gut unterhalten werden. Die Serie hat das Buch längst eingeholt. Das „Literarische Quartett“ , das seit einer Woche im ZDF Auferstehung feiert, wird die neue Konkurrenz nicht ignorieren können.
Seit der Erstausstrahlung im Jahr 1988 war „das Quartett“ für den deutschen Bildungsbürger ein trojanisches Pferd im feindlichen Land, so etwas wie die letzte Hoffnung im Kampf gegen die Dummheit. Der Bildungsbürger verstand das „Quartett“ als kraftvolle Antwort auf die Einführung des Privatfernsehens vier Jahre zuvor. In seinen Augen standen sich kampfbereit gegenüber: die Profanität des Bildschirms und die Heiligkeit des Buchs. Kultur gegen Unkultur. Auf Seiten des Buchs: das Johannes-Evangelium. „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott.“ Auf Seiten des Bildschirms: Dieter Bohlen. So kann der Bildungsbürger seit einer Woche wieder angeregt und voller Anteilnahme zusehen, wenn Bücher gestreichelt, verstoßen, zerrissen und gepriesen werden. Mit einer Frage wird ihn das „Quartett“ eher nicht konfrontieren: Lohnt es sich noch, zu lesen?
Man stellt diese Frage weder in Schulen noch im Fernsehen noch in der Politik. Und wenn sie jemand stellt, dann als rhetorische Frage mit eingebauter Antwort. Klar lohnt es sich!, sagen die Kinder am Vorlesetag. Klar lohnt es sich!, sagen die Lese-Botschafter von RTL. Klar lohnt es sich!, sagt der Deutschlehrer, mit gelben Reclam-Bänden unter dem Arm und denkt dabei: Das Buch gehört doch zum guten Menschen dazu.
Aber auch Beate Zschäpe liest gern. Das sagte letztes Jahr eine Zeugin im NSU-Prozess aus, ihre frühere Nachbarin. Beate Zschäpe teilt diese Leidenschaft mit Frauke Ludowig, Marietta Slomka und Florian David Fitz. Ludowig, Moderatorin bei RTL, sagt, sie könne sich einen Alltag ohne Lesen nicht vorstellen. Slomka, Moderatorin beim ZDF, findet es „traurig und überaus bedenklich“, dass heutzutage so vielen Kindern nicht mehr vorgelesen werde. Und Fitz, Schauspieler, fragt sich, was er ohne Shakespeare wäre; ohne die „Korrekturen“, ohne „Krieg und Frieden“, ohne die „Buddenbrooks“. Er glaubt: „nicht viel.“
Man kann das bezweifeln. Wahrscheinlich wäre er immer noch Florian David Fitz. Er übertreibt, wie so viele übertreiben, wenn sie vom Lesen reden. Ludowig, Slomka und Fitz sind Botschafter der „Stiftung Lesen“. Wenn sie vom Lesen sprechen, dann werden sie eher nicht an Beate Zschäpe denken. Sondern an Leseratten, an Bücherwürmer, an durchwachte Nächte, an verstaubte Seiten: an diesen ganzen Lesekitsch.
Sie werden davon ausgehen, dass Lesen gut und wichtig ist. Vielleicht denken sie an ein Zitat, das aus einem Werk Heinrich Heines stammt: „Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.“ Da hört man, im Umkehrschluss: Wer für Bücher ist, ist für die Menschlichkeit. Aber: Auch Beate Zschäpe hat gelesen. Es hat sie nicht davon abgehalten, unmenschliche Dinge zu tun. Und Heines Satz hatte zwar in unheimlicher Weise prognostische Richtigkeit – die Nationalsozialisten haben erst Bücher verbrannt und später Menschen –, er sollte aber nicht zu einem Fehlschluss verleiten: dass es bei den Bücherverbrennungen um das Medium an sich ging. Warum auch? Das Buch war ja ebenso das Medium von Ernst Jünger, Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger und Adolf Hitler.
Der Stapel sagt: Du gibst zu schnell auf. Du sollst durchhalten. Ich sage: Und du sollst unterhalten. Sei wie Muhammad Ali. Schwebe über den Boden, tanze, sei großspurig und laut. Der Stapel sagt: Die Literatur ist kein Boxer. Sie ist eine leise Welt, eine Welt mit Geheimnissen. Ich frage: Und was ist, wenn man vor lauter Geheimnissen die Geschichten nicht mehr sieht? Ich berühre die Seiten: Sie sind voller Staub. Ihr seid nicht gut, ihr seid nicht schlecht, ihr seid einfach nur Papier.
Auf meinem Macbook läuft eine Folge von „The Affair“: Noah und Alison fahren auf einer Fähre nach Block Island, eine abgelegene Insel vor Montauk. Noah kauft zwei Becher Kaffee, Alison steht an der Reling und schaut aufs Meer. Noah fragt Alison: Hältst du dich für einen guten Menschen? Und Alison sagt: Nein. Ich staube die Bücher ab, Buch für Buch, und stapele sie in eine Kiste. Ich habe das Lesen verlernt. Aber ich habe Carrie, Saul, Noah und Alison. Ich stelle die Kiste in den Keller. Es fühlt sich gut an.
Felix Dachsel, 28, hat am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert. Er schreibt vorrangig, um Geld zu verdienen.
Martina Wember, 54, ist freie Illustratorin. Sie liest in Schüben – Adrenalin pur – und ist dann nicht ansprechbar.
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