: Die Heimatstation
FAMILIÄR Selbstbestimmung, feste Bezugspersonen und eine häusliche Umgebung helfen Psychose-Patienten mehr als Medikamente und starre Strukturen: das ist der Ansatz von „Soteria“. Seit zwei Jahren gibt es auch in Hamburg eine Abteilung
von Ilka Kreutzträger
Es bleibt eine Klinik, perfekt ist das nicht für die Station 2B. Ideal wäre eher ein eigenes Haus, vielleicht am Rand des Klinik-Geländes, wo der Klövensteen beginnt. Dieser Wald im Westen Hamburgs, in dem man sich ein bisschen verlieren kann und Milch direkt beim Bauern bekommt. „Man kann eben nicht alles haben“, sagt Chefarzt Ulf Künstler, der die Soteria-Station für Menschen mit akuten Psychosen ins Leben gerufen hat. 2B kam in den Räumen der psychosomatischen Abteilung des Asklepios Klinikums West unter. Öde Gänge, geschlossene Türen, PVC-Fußboden und benachbarte Diabetes-Abteilung inklusive. Nur der Krankenhaus-Geruch fehlt. „Hier riecht es immer nach Essen“, sagt Künstler und stößt schwungvoll die Glastür zu 2B auf.
Die Wände sind in zweierlei Gelb gestrichen. In der Küche bereiten zwei Patienten, hier nennt man sie Bewohner, gerade alles fürs gemeinsame Mittagessen vor. Die derzeit acht Bewohner von 2B sollen möglichst viel selbst organisieren, um Struktur ins verrutschte Leben zu bringen. Das ist das Konzept. Sie fahren mit dem Bus in den Supermarkt, um einzukaufen. Sie kochen, decken den Tisch, essen gemeinsam, räumen auf, treffen sich morgens und abends zum Gespräch, sie putzen. Es ist die Struktur einer größeren WG.
Manchmal kommt Künstler nur vorbei, um mit Bewohnern und Betreuern gemeinsam zu essen und sich zu unterhalten. Ganz zu Beginn, als von den 14 Plätzen erst zwei Betten belegt waren, saßen Künstler, die Stationsleiterin Liane Johanns und die beiden Bewohner dauernd in der Küche und spielten Uno. Visiten gibt es in der Soteria-Abteilung nicht, überhaupt spielen Ärzte und Psychologen eine untergeordnete Rolle, greifen ins Tagesgeschäft nicht ein. Das macht Künstler nichts.
„Soteria“ ist griechisch und bedeutet „Geborgenheit, Rettung, Befreiung“. Alles Begriffe, die im klassischen Klinikbetrieb mit seinen straffen Strukturen, dem Schichtbetrieb und den Pflegekräften, die oft gar nicht dazu kommen, sich in Ruhe um die Patienten zu kümmern, eigentlich wenig zu suchen haben. Darum wird die Station 2B, die mehr Zuhause als Krankenhaus sein will, von den Mitarbeitern der anderen psychiatrischen Abteilungen auch kritisch beäugt.
Dabei ist das Konzept nicht neu. 1971 eröffnete der Psychiater Loren Mosher im kalifornischen San José das erste Soteria-Haus. Er wollte einen Kontrapunkt zu den Großkliniken mit ihren geschlossenen Abteilungen und dem exzessiven Neuroleptika-Einsatz setzen. Seelische Störungen seien, so schrieb Mosher, „eher mit Hilfe tragender Beziehungen zu überwinden als durch Medikamente“. Mosher starb 2004 und zog zwei Jahre vor seinem Tod noch eine positive Bilanz. 85 bis 90 Prozent seiner Klienten kehrten ohne konventionelle Krankenhausbehandlung in die Gesellschaft zurück.
Der Schweizer Psychiater Luc Ciompi brachte das Konzept nach Europa und eröffnete 1984 ein Soteria-Haus mitten in Bern, abseits des Klinik-Geländes. Noch heute werden dort Patienten begleitet. Ciompi war aber nicht ganz so radikal wie Mosher, er setzte auf geschultes Personal und verschrieb schon mal Neuroleptika, wenn auch niedrig dosiert und nur im Notfall.
Künstler ging wegen Ciompi für vier Jahre nach Bern, weil er begeistert war von dem Soteria-Konzept, das für Menschen mit Psychosen gedacht ist. Als er vor zwei Jahren ans Klinikum West kam, brachte er Soteria mit. „Es macht etwas mit Patienten, wenn man ihnen vermittelt, dass man es gemeinsam schafft und ihnen nicht nur Tabletten gibt und sagt: wird schon wieder gut“, sagt Künstler. Im Herbst 2013 starteten sie mit 2B, offiziell eröffnet wurde die Station im Januar 2014.
„Es war schwer am Anfang“, sagt Stationsleiterin Liane Johann, die seit 15 Jahren im Klinikum West arbeitet. Die Pflegekräfte sind auf 2B ständig ansprechbar für die Bewohner, erstellen mit ihnen Tagespläne, essen gemeinsam, begleiten sie auch mal aufs Amt. Die Idee, den Patienten ein Zuhause zu schaffen, schließt die Pfleger ja mit ein. So etwas verschiebt die Grenzen.
„Am Anfang haben wir noch feste Gruppentermine etwa für Kunsttherapie angeboten, weil wir uns selbst einfach nicht vorstellen konnten, ohne diese festen Strukturen zu arbeiten“, sagt Johanns. Aber die Bewohner hätten das gar nicht angenommen. Auf 2B gibt es einen Kunstraum, wer will, geht rein. „Die Bewohner sollen hier bei uns einfach eine Möglichkeit haben, wieder in die Welt zu finden“, sagt Johanns. Die Erfahrungen dabei sollen sie mit anderen Patienten, mit Freunden und der Familie „teilen und durcharbeiten“.
So langsam wachse auch bei den Kollegen der anderen psychiatrischen Abteilungen das Verständnis für dieses Konzept, sagt Künstler. Das sei gut so. „Denn es nutzt ja nichts, hier diese neuroleptika- und gewaltfreie Zone zu haben und dort den Großbetrieb, in dem knüppelhart mit Medikamenten und ohne Bezugspersonen gearbeitet wird.“
Die Krankenkassen zahlen zwar noch immer lieber sechs Wochen stationären Aufenthalt als sechs Wochen in einer offenen Wohngruppe wie der Soteria, aber bisher hat es in Hamburg keine Probleme gegeben. Die Kosten selbst seien laut Künstler auch gar nicht unbedingt höher als die für eine konventionelle Therapie. Die Patienten blieben im Schnitt nur etwas länger. Aber am Ende verlassen sie die Klinik mit der Erfahrung, in der Krise aufgefangen zu werden.
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