piwik no script img

Symbolisches KapitalMatjes, Bourdieu und meine Oma

Matjes sei „Kult“ und nicht nur Fisch, sagt das Holländische Fischbüro - und eröffnet die Saison mit der ehemaligen Fernseh-Glücksfee.

Krokodil-Penisse, Känguru-Hoden, Matjes: Dschungelkönigin Maren Gilzer traut sich alles Foto: Lena Kaiser

Hamburg taz | Auf dem Deck eines alten Fischkutters steht sie da, umzingelt von Fotografen und Kameraleuten, setzt an zur erwarteten Pose: Maren Gilzer, die Dschungelkönigin und Glücksrad-Buchstabenfee von einst, lässt das Fischfilet eine Weile über dem Mund baumeln. Dann legt sie es wieder unversehrt auf den Teller zurück. Gilzer ist, wie sie sagt, eigentlich gar kein Matjes-Fan. „Da ist etwas, dieses salzige, das ist …“, sie bringt den Satz nicht zu Ende, streckt die Zunge heraus und beschließt das Thema vorerst mit einem höflichen Lächeln.

Als Botschafterin der Stiftung „Kinder Herz“, die herzkranken Kindern hilft, eröffnet sie die diesjährige Matjessaison im Hamburger Hafen. An diesem Mittwoch, acht Tage nach dem ursprünglich geplanten Termin, kommt gemäß der Tradition das erste Fass mit holländischem Matjes am Fischmarkt an.

Die Frau, die einfach alles isst

Ob das Holländische Fischbüro, die Marketingorganisation der holländischen Fischindustrie, das die Saisoneröffnung ausrichtet, sich wohl bewusst war, dass die personelle Wahl ziemlich kurios ist? Ist Maren Gilzer doch seit Anfang des Jahres bekannt dafür, dass sie einfach alles isst. Im Dschungelcamp hatte sie ihren großen Auftritt, als sie ohne mit der Wimper zu zucken zwei Augen, einen Krokodil-Penis und Känguru-Hoden verspeiste. Was wirft das für ein Licht auf den Matjes?

Wenig später entgleisen die Eröffnungsfeierlichkeiten: Beim Ablegen zur Bootstour durch den Hafen ergreift eine Böe den alten Holzkutter und lässt ihn gegen eine Brücke krachen. Nur mühsam kann ihn die Crew wieder befreien und an den Anleger zurückmanövrieren. Die Veranstalter lassen sich davon nicht beirren - sie öffnen das erste Matjesfass.

Maren Gilzer darf das erste Filet probieren. „Was schmecken Sie?“, fragt ein Mann vom Holländischen Fischbüro. „Na sagen wir mal so: Es schmeckt wie Sushi, nur salziger“, erwidert sie.

Matjes, erklärt das Holländische Fischbüro auf seiner Homepage, sei mehr als ein Fisch, er sei „Kult“. Ein Satz, der mich an meine Oma denken lässt. Sie begann die Saison am liebsten damit, dass sie die angeblich so frischen Fischfilets zu ihrem Geburtstag servierte. Auch sie versuchte mich und die ganze Familie für den Matjes zu begeistern. In belehrendem Ton gab sie mir einmal mit auf den Weg, dass man den Fisch, um ihn schön mild zu bekommen, in Mineralwasser einzulegen habe. Es vergingen einige Jahre, bis ich das das erste Mal ausprobierte. Seither glaube ich, man gewöhnt sich an alles.

Die alte Tradition des Matjesessens, eigentlich holländischen Ursprungs, gelangte mit dem Fischhandel nach Norddeutschland. Die Holländer waren die ersten, die den Hering noch auf dem Schiff auseinandernahmen. Dabei fanden sie heraus, dass er sich länger hält, wenn man einen Stück der Schwanzflosse am Filet belässt. Heute ist Matjes zwar frischer Fisch, nicht aber fangfrischer: EU-Regeln schreiben vor, dass man ihn sicherheitshalber tiefkühlt, um so auch Nematoden genannte Fadenwürmer abzutöten.

Lange Zeit war Hering ein typisches Arme-Leute-Essen. Auch wenn sich das inzwischen geändert hat, gilt das traditionelle Matjesessen immer noch als Inbegriff des Bodenständigen. Warum sich etwa Politiker bis heute zum Saisonstart gern beim Verzehr des salzigen Fischfilets ablichten lassen, weiß Dirk Gotzmann vom Bonner Civilscape-Büro, der sich mit maritimer Nahrungskultur an der Nordsee befasst: „Matjes ist eng mit der regionalen Identität verbunden“, sagt er. Wer zeigen will, dass er dazugehört im deutschen Norden, der isst Matjes.

Doch warum muss ausgerechnet diese Heringsvariation dafür herhalten, eine Nähe herzustellen, die vielleicht gar keine ist? Oder ist es schlicht Folklore, ähnlich wie beim Karneval, wo sich irgendwelche Repräsentanten in ähnlicher Absicht rote Nasen aufsetzen?

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat für solche Gepflogenheiten eine treffende Erklärung gefunden: Er spricht von einer „Strategie der Herablassung“. Demnach bedienen sich Politiker als Repräsentanten gesellschaftlicher Macht gern symbolischer Gesten, indem sie so tun, als gebe es keinen Unterschied zwischen ihnen und den normalen Leuten. Und diese Geste, mit der sie ihre tatsächliche Überlegenheit verneinen, wird ihnen von den Untergebenen hoch angerechnet, obwohl sie an der tatsächlichen Hierarchie nicht das Geringste ändert.

Politiker profitieren sogar davon, wenn sie sich wie beim Matjesessen zu den normalen Leuten herunter bücken, denn am Ende stärkt die Anerkennung, die sie dafür bekommen, ihre Position. Auch wenn sie den Leuten nur auf die Schulter klopfen, um ihnen anschließend wieder den Rücken zuzukehren.

Eine neue Karriere für den Fisch

Weil die regionale Identität angeblich so wichtig ist, will Civilscape, das sich als „Europäisches Netzwerk für Landschaft“ bezeichnet, mit den Heimatbünden der norddeutschen Bundesländer eine europäische Kulturstraße für „North Sea Food“ einrichten. Die Idee sei - ähnlich wie beim Jakobsweg oder der Route des Olivenöls - die Geschichte der Fischerei wieder erlebbar zu machen, sagt Dirk Gotzmann vom Bonner Büro. Im Oktober wollen sie besprechen, ob sie eine Seefisch-Kulturstraße beim Europarat beantragen wollen. Spielt der Kulturrat mit, könnten Matjes und die anderen zum europäischen Erbe zertifiziert werden.

Ein Vorhaben, das dem Fisch zu einer neuen Karriere verhelfen könnte. Zwar spielen auch Sterneköche längst mit der Vereinbarkeit einfacher und gehobener Esskultur - so ganz hat er Matjes sein proletarisches Image aber noch nicht verloren. Der große Brei regionaler Identität könnte es am Ende schaffen, dass davon nichts mehr übrigbleibt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • "…Lange Zeit war Hering ein typisches Arme-Leute-Essen.…"

     

    Ja - &

    der Fischereiwissenschaftler

    Professor Dr. Paulus Schiemenz -

    Herausgeber der Zeitschrift für Fischerei- und deren Hilfswissenschaften &

    Autor des Buches „Gesichtspunkte für die Wertschätzung unserer Fischereigewässer“ -

    sagte schon Anfang des 20. Jahrhunderts im Hinblick auf die

    Auswirkungen der industriellen Entwicklung voraus:

     

    "Wenn wir damit so weiter machen -

    Wird der Hering noch ein begehrter Speisefisch werden!"

    Und ebensolche Klarsicht ist/war dem

    Bauernsohn Pierre Bourdieu eigen.

     

    kurz - All that & Schickimicki am

    Tralafittitresen - sells.

     

    "Europäisches Erbe der zertifizierten Esskultur -";))

    Da högens Vaddern sich - as ook Mudder -

    Da gurgelt di de Matjes aufm Kudder -

    Na - Hein Godenwind&stiff - ever stur.