Roman: Textteppichknüpfer
"Mara Kogoj" von Kevin Vennemann gilt als der schwierigste Roman dieser Saison. Es geht um Rassismus. Doch die Anstrengung der Lektüre lohnt.
Mara Kogoj" zählt zu den schwierigsten Büchern dieser Saison. Dementsprechend umstritten ist dieser zweite Roman des Autors Kevin Vennemann. Bei der aus Literaturkritikern bestehenden Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises löste bereits eine frühere Fassung des Romans Ratlosigkeit aus. Mehrheitlich reagierten die Jury-Mitglieder auf den sperrigen Text geradezu aggressiv. Von Diskursmischmasch war die Rede, von Manieriertheit und mangelnder Glaubwürdigkeit: Rechtsradikale reden so nicht, hieß es. Aber auch der fertige Roman fordert die Literaturkritik heraus. Warum also die Herausforderung nicht bewusst annehmen und sich den Roman noch einmal ganz genau ansehen?
Was genau ist an diesem Roman auf den ersten Blick so verwirrend? Da ist zunächst einmal das Sujet. "Mara Kogoj" dreht sich um deutschnational Gesinnte in Kärnten - warum sollten wir uns dafür interessieren? Dann verwirrt auch der Autor. Was will ein 30-jähriger, in Westfalen aufgewachsener Schriftsteller von diesem nicht gerade nahe liegenden Thema? Überhaupt, was will dieser Mann, der trotz seines dafür tauglichen Alters keine irgendwie im Register der Pop-Literatur einzufangende Ich-Erzählung anbietet? Wo er doch schon so aussieht, als ob er auf Partys eingeladen würde. Dieser Autor passt offenkundig nicht in derzeit gängige Einsortierungen und Moden.
Der Eindruck, dass hier ein Autor und ein Literaturbetrieb aufeinander treffen, die nicht sicher sind, was sie miteinander anfangen sollen, steigert sich noch, wenn man sich mit Kevin Vennemann unterhält. Immerhin wollte er selbst, wie er sagt, mit "Mara Kogoj" möglichst plakativ werden. Funktionalisierte oder, wie man früher sagte, "engagierte Literatur" stehe ihm ohnehin näher, fügt er hinzu. Sein Debütroman "Nahe Jedenew" war vor zwei Jahren allgemein sehr positiv aufgenommen worden. In manchen Besprechungen wurde er gelobt, weil er gerade keine politischen Gegenwartsfragen behandle, sondern einfach eine schöne Parabel sei von einer gewaltvoll zu Ende gebrachten, vielleicht paradiesischen, in jedem Fall entrückten Kindheit.
Das hat Kevin Vennemann bei aller Freude doch irritiert. Und so wurde dieses entpolitisierende Lob mit zu einem Grund, warum sich "Mara Kogoj" eher diskursanalytisch mit dem Bauplan eines aktuellen "Konsensgedächtnisses" beschäftigt, das nach wie vor an der Umdeutung von Tätern zu "nur Reagierenden" arbeitet. Das ist Vennemanns Thema, und er hat dabei ganz konkrete Ausgangspunkte im Hinterkopf. Siehe etwa vor einigen Jahren den Widerstand gegen die Wehrmachtsausstellung. Oder siehe eben die Deutschnationalen in Kärnten und ihre durch völkisches Liedgut abgestützte Weltsicht, die eine "Blutgrenze" zwischen sich und der slowenischen Minderheit besingt.
Es hilft nichts, um diesem literarischen Projekt auf die Spur zu kommen, muss man genau sein. Die im Roman vorgenommene Versuchsanordnung ist folgende: Drei Diskurspositionen treten miteinander in Verhandlung, vertreten durch drei Figuren. Da ist zum ersten Ludwig Pflügler, Kärntner Journalist, Politiker und Vater von zwei Kindern. Er benötigt ein psychologisches Gutachten, um einer Haftstrafe wegen eines erneuten Verstoßes gegen das NS-Verbotsgesetz zu entgehen. Daher meldet er sich freiwillig bei zwei der slowenischen Minderheit angehörenden Wissenschaftlern. Über acht Monate hinweg wird Pflügler, dessen von ihm verehrter Vater in der Waffen-SS aktiv war, Tone Lebonja - das ist die zweite Figur - seine Kindheitserinnerungen unterbreiten.
Während ein stets mitlaufendes Tonband Pflüglers Geschichtsklitterungen aufzeichnet, hört Lebonja nahezu ebenso automatisiert zu. Nach und nach erfährt der Leser den Grund für das sture Nicht-Reagieren: Lebonja war als Kind mit Pflügler befreundet und mehrfach Opfer seiner Gewaltausbrüche. Heute - mehr als vierzig Jahre später - erkennt der Täter ihn offenbar nicht wieder. Oder ist es Absicht, dass er beharrlich von einem Janez Ðorl spricht und doch von ihm, Lebonja, berichtet? Seis drum. Der mittlerweile rund sechzig Jahre alte Lebonja will beweisen, dass ihm das heute alles nichts mehr anhaben kann. Mehr noch. Sein Plan ist es, die ressentimentgeladene Rede als Bollwerk gegen das eigene Trauma umzufunktionieren. "Ich halte Balkontür und Fenster geschlossen, mich für ausreichend geschützt, ich lebe mich ein: ... zweiundvierzig Jahre nach dem Beschluss, mich nur noch herausleben zu wollen. ... ich erinnere mich nicht."
Brisant ist Lebonjas "schweigend bastelnder Versuch", sich herauszuhalten, zum einen, weil er sich mehr und mehr zur Affirmation des von Pflügler hier nur im übertragenen Sinne gesungenen "Kärntnerliedes" verselbständigt. Zum anderen weil er Ausdruck eines vom Rassismus induzierten Selbsthasses ist, der es so schwierig macht, das Schweigen zu durchbrechen. Weswegen schließlich die dritte im Bunde, Mara Kogoj, eingreift. Gleichfalls biografisch involviert, zwingt sie Lebonja, seine subjektive, folglich auch angreifbare Erzählung gegen die "bruchsichere Überzeugung" zu setzen, die in Kärnten wie anderswo nationalistische Denkbilder fundiert. Sie selbst wird Lebonjas schließlich stolpernde Sprechversuche in einem langen Monolog um historische Fakten und eine gezielte Demütigung Pflüglers ergänzen. "Reichlich pathetisch, nicht wahr", kommentiert sie sich später selbst. "Vermutlich nicht alles ganz richtig, aber das macht nichts, es hat seinen Zweck erfüllt."
Sich als "emotional mit den Fakten verquirlt" preiszugeben, um von dort aus die schmerzhafte Gegenrede gegen ein rassistisch abgedichtetes Weltbild zu führen, das scheint die - durchaus plakative - Botschaft dieses durch und durch konstruierten Romans zu sein. Und das ist auch das Interessante daran. Es geht darum, eine Frage, die den gesellschaftlichen Alltag auf einer Subebene begleitet, abstrakt durchzuspielen. Sie lautet: Was setze ich dem ganz normalen Ressentiment entgegen, das einzelne Bevölkerungsgruppen, etwa "Ausländer", auf die sattsam bekannte Weise als die auf ewig "Anderen" stigmatisiert? Greife ich ein? Halte ich Fakten entgegen, vorausgesetzt, ich kenne sie? Oder ziehe ich mich ins Schweigen zurück und begnüge mich damit, mich unwohl zu fühlen? Wäre mit einer Gegenrede überhaupt etwas gewonnen?
Dass es hierauf weder apodiktische Antworten gibt noch eine Alternative dazu, alle Möglichkeiten immer wieder neu und ortsbezogen auszuhandeln, davon erzählt "Mara Kogoj". Ebenso wie von dem schmerzhaften Gefühl des Sich-Aussetzens. Diesem Gefühl, das sich einstellt, wenn man, aus welchen Gründen auch immer, zum Objekt und/oder Mittäter des Ressentiments wird, an der Wand der Klischees abprallt und erst den Konsens aufbrechen muss, um Spielraum für sich als Individuum zu bekommen.
Auf die Frage, warum er den Lesern bei alledem jedes Drumherum verweigert und die Figuren als Personen fast unkenntlich bleiben, antwortet Kevin Vennemann: "Personen zu beschreiben ist ungeheuer schwierig, genauso schwierig wie gute Dialoge. Da habe ich mich nicht so recht rangetraut." Aber sofort korrigiert er sich lachend: "Blödsinn. Ich habe das vor allem als Ballast empfunden. Ich wollte ihre Rede nicht verwässern, sondern möglichst klar zeigen, wie derzeit das innerkärntnerische Gespräch funktioniert." Ob es sinnvoll ist, rassistische Denkweisen am Beispiel Kärntens vorzuführen, wenn es nicht um Rechtsradikalismus, sondern um das allgemeine bürgerliche Ressentiment gegen "die Anderen" geht, das ist natürlich die Frage, setzt er nach.
Der Literaturwissenschaftler und Historiker ist im Umgang mit seinen Gesprächspartnern zu vorsichtig, um sich leichtfertig auf eine Interpretation oder gar Verteidigung des eigenen Textes einzulassen. Wie dieser - etwa wenn Mara Kogoj ihre Pathetik zugibt, gleichwohl ungerührt an ihr als Mittel zum Zweck festhält - ergänzt er formulierte Thesen fast immer umgehend um eine mögliche Kritik an ihnen.
Auch sein Text - und das macht ihn erst einmal kompliziert - springt ständig zwischen widerstreitenden Sichtweisen hin und her. Zudem arbeitet er, angenehm unaufgeregt, mit zwei Ich-Erzählern, denen von Lebonja und Kogoj. Ein Beispiel: "Ich will sie fragen, was sie hier tue, aber er fragt nicht." Dieser Perspektivenwechsel mitten im Satz macht Anleihen beim filmischen Schuss-Gegenschuss-Verfahren. Position zu beziehen, so könnte man interpretieren, ist eben nicht zu verwechseln mit der Identifikation mit nur einer Sichtweise. Mehr noch: Durch diese formalen Entscheidungen erklärt der Text Beweglichkeit in der Perspektive und ein Sich-Nicht-Festlegen zur Voraussetzung für eine politisch sinnvolle Gegenrede. Denn er fordert in der eigenen Sprech- und Denkweise eine Distanznahme ein, die es nicht zulässt, sich selbstzufrieden in der eigenen Nabelschau einzunisten.
Eine weitere lesetechnische Herausforderung ist der Umstand, dass der Roman einem Textteppich gleicht. Nur wenige Abschnitte unterteilen ihn, Absätze gibt es gar keine, und auch auf Anführungszeichen oder Fragezeichen wurde verzichtet. Stattdessen feiert Kevin Vennemann den Doppelpunkt als ihm näher stehende Möglichkeit, Zäsuren zu setzen. "Das ließe sich natürlich symbolisch ausdeuten", sagt er, "aber - das ist ja auch Quatsch."
In jedem Fall erlaubt ihm nicht zuletzt seine von der Grammatik emanzipierte Interpunktion, dass sich Schriftlichkeit und Mündlichkeit zu einem eindringlichen Geflecht von Rede- und Gegenrede, Macht- und Ohnmacht, Hilflosigkeit und Rache verbandeln. Welches fasziniert. Auch wenn es manchmal nervt, dass der Text eine stete Konzentration vom Leser fordert und es einige Zeit braucht, bis man seine Bauweise begriffen hat und sich der Kontrolle des Autors wieder ein wenig entziehen kann.
Kevin Vennemann: "Mara Kogoj", Suhrkamp 2007, 218 S., 16,80 Euro.
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