Kolumne: Die Sache mit dem Apfelbäumchen

Erstarrt in einer Beinahenullbewegung stellen wir bisweilen fest: Kinder, wie die Zeit verfliegt!

Gerade komm ich vom Bäcker zurück und vor mir biegt aus einem Laden heraus ein Jugendlicher, ein junger Mann schier, breites Kreuz, und geht, eine Coladose knackend, vor mir her aufs Haus zu. Er blickt sich um und grüßt, ah, hallo, es ist natürlich Nico, der Sohn meiner Nachbarn. Und wenn ich letztens hier schrieb, die Beschäftigung mit Popmusik sei ein effektiver Weg, sich das absurde Tempo des Zeitverflugs vor Augen zu führen, dann ist das natürlich vollständiger Pillepalle im Vergleich zur Beobachtung von heranwachsenden Kindern. Das Quasi-Mannsbild da vor mir kenne ich noch als kleinen Jungen, der unten im Hof auf einem Fahrrad mit Stützrädern seine ersten Runden dreht.

Ich drücke die Tür hinter mir zu und starre in die Wohnung, in der ich jetzt seit bitteschön WIE vielen Jahren wohne? Und WIE viele, mal metaphorisch gesprochen, Häuser gebaut, Apfelbäume gepflanzt und Kinder gezeugt habe ich noch schnell in all diesen Jahren? Mir fällt die "Raumschiff Enterprise"-Episode ein mit diesen außerirdischen Leuten, die durch irgendwas Komisches in ihrem Trinkwasser so extrem beschleunigt in einer anderen Zeitebene leben, dass sie für die Normalschnellen unsichtbar und akustisch nur als hohes Summen wahrzunehmen sind. Irgendwann sieht man dann das Geschehen von ihrer Zeitwarte aus: Sie latschen durch die Flure der Enterprise, auf der alles andere stillzustehen scheint, laufen herum zwischen den in gletscherhafter Beinahenullbewegung erstarrten Besatzungsmitgliedern.

Ich hab mich immer gefragt, was die Typen wohl in den aus ihrer Sicht ja unendlich langen Zeiträumen machen, in denen Kirk, Spock, Uhura & Co. die Handlung der Episode vorantreiben, mit der sie ja schließlich interagieren. Während Scotty auf der Krankenstation mit Pille Witze reißt, könnten die ja gut und gerne zwei Wochen Malle "machen". Bis Spock gemeldet hat, dass die Tricorderwerte auffällig sind, noch schön auf ein Radler oder drei in den Augustinerbiergarten runterbeamen. Gehen sie einer geregelten Arbeit und/oder intensiven, zeitaufwändigen Hobbys nach, pflegen Freundschaften, gehen dancen, studieren Exotisches etc. und wir Zuschauer sehen sie nur in den wenigen Minuten ihrer aufregenden, betriebsamen Woche, in denen sie mit diesen zähen Enterprise-Typen zu tun haben? Oder verbummeln sie gar ihre ganze schöne viele Zeit, hängen in der Cafeteria oder vor der Glotze rum?

Ich sehe mich im Treppenhaus, erstarrt in eiligem Schritt, die Hand am Treppengeländer, acht Jahre auf dem Weg ins Büro kondensiert, geronnen zu einen einzigen unendlichen Gang, während um mich herum Nico und die anderen Kids aus dem Haus auf und ab wuseln, pulsierend vor Jugend, ihre Stützräder abschrauben, zu Halbstarken und Backfischen heranwachsen. Mein erfundener Mitbewohner verdreht die Augen und sagt, ich soll nicht so melodramatisch tun, aber der hat ja leicht reden, der ist seit Jahren kein Stück gealtert.

Mir gefiel immer recht gut eine Replik, die einmal vor vielen Jahren ein Bekannter von mir leistete gegenüber einem jungen Mann, der eines Samstagabends in unserer Stammkneipendisco einigermaßen alkoholi- und euphorisiert herumlief, offenbar wild entschlossen, heute mit der ganzen Welt Freundschaft zu schließen. "Servus, i bin der Kasi!", blökte er grinsend jedem entgegen, der ihm vor die Grußhand kam. "Servus, i bin der Kasi!", fiel er auch meinen Bekannten an, der trocken entgegnete: "Des woaß i scho, i war auf deiner Tauf." Ich finde, man darf sich fragen, wie spät es eigentlich schon ist, wenn man spätnachts in der Kneipe Leuten begegnet, deren Taufe beigewohnt zu haben man sich aktiv erinnert (und umgekehrt). Insofern halte ich mich ab jetzt mal an mein Nachbarskind Julia. Die ist eins. Und wenn die irgendwann ihre Stützräder abschraubt und wenig später mit ihrem ersten Freund heimkommt und ich kleb immer noch in diesem Treppenhaus fest, dann dann sprechen Sie mich bitte auf die Sache mit dem Apfelbäumchen an, ja?

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