US-Kunst: Nicht einfach nur Natur

100 Jahre vor Hopper: Die Ausstellung „Neue Welt-Die Erfindung der amerikanischen Malerei“ zeigt Wüsten und Canyons als gelobtes Land der jungen US-Kunst.

Widersprüchliche Informationen an die Gleichgewichtsorgane lösen Schwindel aus. Für einige der blanke Horror, ist für andere die kontrollierte Vertigo purer Lustgewinn. Wer sich also gern am Abgrund bewegt, für den sind die 25 Euro für einen Bummel über den Grand Canyon Skywalk eine gut angelegte Investition. Seit dem Frühjahr existiert der hufeisenförmige Steg aus Panzerglas über den Colorado River im Reservat der Hualapai-Indianer. Der Maler Thomas Cole kam 180 Jahre früher auf eine ähnliche Idee und machte den Canyon zum Thema eines Gemäldes. Vor einer imposanten Berglandschaft schiebt sich eine Felsplattform über ein tiefes Tal. Statt Touristen sind es hier (die letzten) Mohikaner aus James F. Coopers Roman, die den spektakulären Ort für eine spirituelle Begegnung nutzen.

Nach "Cream" (1998), "Fresh Cream" (2000) und "Cream 3" (2003) nun also im Jahr 2007, nein, nicht "Sour Cream", sondern "Ice Cream": So heißt das neueste Übersichtswerk zur jungen zeitgenössischen Kunst aus dem Phaidon Verlag (448 Seiten, 700 Farb- und 30 Schwarzweißabbildungen, 69,95 Euro). Wie seine schwergewichtigen Vorgänger folgt auch "Ice Cream" dem bewährten, effizienten Prinzip, zehn Kuratoren und Kritiker wiederum zehn von ihnen favorisierte Künstler vorstellen zu lassen.

Die Künstler sind jung und stehen am Anfang ihrer Karriere. Frühestens vor fünf Jahren tauchten sie erstmals in der internationalen Kunstszene auf, die nun unter anderen durch Sergio Edelsztein, Jens Hoffmann oder Massimiliano Gioni (Wrong Gallery) vertreten wird. In einem kurzen Text führen die Kuratoren in das Werk der von ihnen vorgestellten Künstler ein, komplettiert durch eine Bibliografie und Ausstellungshistorie. Die darauf folgenden vier Seiten mit Abbildungen der wichtigsten Arbeiten vermitteln dann tatsächlich einen soliden Eindruck vom Werk des jeweiligen Künstlers (das Bild zeigt die Arbeit "Ah Ming at Home" des Fotografen Cao Fei). Sicher, die Auswahl folgt dem Trend hart auf der Spur und überrascht den Insider, der auf die eine oder andere Weise ökonomisch in den Kunstbetrieb verwickelt ist, daher wenig. Aber der Band zielt auf den interessierten Zeitgenossen, dem Kunst privates Anliegen ist. Er ist mit "Ice Cream" nicht schlecht beraten. Schon weil er erfährt, dass weder Viktor Alimpiev noch Jennifer Allora + Gillermo Calzadia noch Aoki oder Atelier Bow-Bow wie überhaupt die Mehrzahl der hundert Künstler in Berlin leben und arbeiten. Ein Mythos kommt ins Wanken.

Zu Coles Zeiten (1801-1848) war die Macht der amerikanischen Ureinwohner längst gebrochen. Als Genozidopfer spielten sie schon damals nur eine marginale Rolle – als unberechenbares Feindbild oder als unrettbare „edle Wilde“, deren kulturelles Erbe man aber gern antreten wollte. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Die Hualapai treten zwar als Bauherren des Skywalks auf, was immerhin ein paar Einnahmen in ihre Kassen spült, verkaufen aber eigentlich den exklusiven Blick auf ihr Land, das sie vor langer Zeit abgeben mussten.

Für die amerikanischen Siedler war Landschaft schon immer mehr als Natur. Schließlich waren sie im Verständnis ihrer Pioniervorfahren als auserwähltes Volk im Gelobten Land angekommen. Da konnten Gebirge und Schluchten, Wüsten und Wasserfälle nicht einfach nur geologische Fakten sein. Die Kunsthistorikerin Angela Miller brachte es auf die kurze Formel, dass die Landschaftsmaler des 19. Jahrhunderts „in die stumme Topografie der Natur ein kulturelles Programm einschrieben“. Diese Agenda steht auf einigen zutiefst europäischen Säulen, etwa Edmund Burkes Theorie über das Erhabene, dem rigorosen Protestantismus der Pilgerväter und dem Deismus der Aufklärung. Die Ausformulierung dieses Programms lief dann aber unter genuin amerikanischen Vorzeichen ab.

Denn während die Europäer noch über die Erhabenheit fantasierten oder den Naturzustand romantisch verklärten, sahen sich die Bürger der jungen Republik USA direkt und schicksalhaft „der Wildnis“ ausgeliefert. Wie dieser Begriff von der bildenden Kunst aufgenommen wurde und sich in diesem Zug die erste eigene künstlerische Handschrift US-Amerikas entwickelte, zeigt nun die Ausstellung „Neue Welt – Die Erfindung der amerikanischen Malerei“. Die Staatsgalerie Stuttgart präsentiert in Kooperation mit dem Bucerius Kunst Forum Hamburg eine Auswahl des Wadsworth Atheneum Museum of Art in Hartford, Connecticut. Daniel Wadsworth, Mitglied des aristokratischen Landeigentümerclubs Neuenglands, hatte 1844 seine private Kunstsammlung öffentlich gemacht und damit das erste Kunstmuseum der USA gegründet. Gemälde der Hudson River School, wie die Maler um Thomas Cole und ihre nachfolgende Generation genannt werden, sind in europäischen Museen kaum anzutreffen. Umso mehr lohnt sich die konzentrierte Sammlung des Wadsworth Atheneum, welche die ganze Bandbreite des amerikanischen Interesses an der Landschaft deutlich werden lässt.

Der damals in New York lebende Cole gibt den gebildeten Skeptiker, der zwischen Naturverherrlichung und Kulturpessimismus schwankt. Er konstruierte idealisierte Szenen aus Versatzstücken wirklicher Naturbeobachtung und romantisierter Imagination und lud das Ganze noch mit moralischen Aussagen auf. Er versuchte, Landschafts- mit der in den USA traditionslosen Historienmalerei kurzzuschließen.

Sein Schüler Frederic Edwin Church wurde zum ersten amerikanischen Künstlersuperstar. Er verlegte sich auf erhabene Ausnahmelandschaften – reiste zu den Niagarafällen und porträtierte die tosenden Wassermassen in wandfüllenden Panoramen und handlicheren Ölskizzen. Die Forschungen Alexander von Humboldts in Südamerika inspirierten ihn zu Reisen nach Jamaika, Kolumbien und Ecuador. Süchtig nach immer sublimeren Motiven begann er bald, seine Sujets theatralisch zu inszenieren.

Albert Bierstadt, Auswanderer aus Solingen mit guten Kontakten zur Düsseldorfer Malerschule, trat die Westwanderung an. Seit den 1840er-Jahren hieß die politisch verordnete Doktrin „Manifest Destiny“: Das amerikanische Volk war nicht nur von Gott auserwählt, sondern hatte auch den gesellschaftlichen Auftrag, sich den Kontinent untertan zu machen. Es galt, die frontier – die Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis – immer weiter nach Westen zu drängen. Bierstadt schloss sich dem Treck an und schuf alsbald Ikonen der Unterwerfung: dramatische Sonnenuntergänge über Wigwams, Panoramen von Yosemite Valley, pastorale Szenen in Kalifornien. Künstlerisch gab er sich dabei sehr unabhängig – so integrierte er in die Nevada Mountains auch mal die Schweizer Bergwelt, wenn es seinem pittoresken Zweck diente.

Die Stuttgarter Schau wirft einen aufschlussreichen Blick auf die frühe Kunstproduktion der USA. Sie illustriert einen wichtigen Punkt in der Entstehung einer neuen Kulturnation – genau zwischen der Ablösung von europäischer Tradition und der Entwicklung eigenständiger Positionen. Amerikanische Kunst beginnt eben nicht erst mit Edward Hopper oder Jackson Pollock.

Bis 21. Oktober. Staatsgalerie Stuttgart. Katalog (Hirmer Verlag) 34,90 Euro

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.