Kolumne Geschöpfe: Warum in die Ferne schweifen?
Weil das Gute manchmal gar nicht so nah liegt. Schon gar nicht, wenns die Ostsee ist.
Arno Frank (36) ist taz-Redakteur. Er kann lesen und schreiben. In seiner Freizeit spielt er gerne Flipper, hört schlechte Musik, schaut sich gute Pornos an und erschlägt
Zugegeben, es war eine dumme Idee. Eine saudumme Idee sogar. Ohrfeigen könnte ich mich dafür, noch nachträglich, aber nun ist es zu spät und in den Brunnen gefallen, das Kind. Acht Jahre.
Acht lange Jahre andauernder Wohnhaftigkeit in Berlin habe ich schadlos überstehen können, ohne für eine einzige Sekunde auch nur in die Nähe der abseitigen Versuchung zu geraten, "mal an die Ostsee" zu fahren. Eine instinktive Scheu, eine innere Stimme hatte mich stets davon abgehalten: "Fahr, wohin du willst", flüsterte sie mir zu, "aber bloß nicht an die Ostsee!" Es war die gleiche verlässliche Stimme, die mir immer eingeschärft hatte, das "Land der Schwanzköpfe" zu meiden oder, falls das nicht möglich sein sollte, es möglichst zügig zu durchfahren. Damit war ich gut beraten und habe um die "baltische Badewanne" regelmäßig einen ebenso großen Bogen gemacht wie um die schwanzkopfverseuchten Zonen des Ostens, womit die besonders provinziellen Provinzen von Sachsen und Anhalt gemeint sind, der Dreck unter den Fingernägeln Deutschlands. Vorpommern ist da irgendwie anders, dachte ich. Und wo ich gerade, der Kurven wegen, mit dem Moped tief nach Mecklenburg vorgedrungen war, dachte ich mir überdies: "Warum nicht gleich nach Fischland, Darß, Zingst? Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah? Warum nicht mal an die Ostsee fahren?" Da wars raus. Meine innere Stimme, beleidigt, schwieg.
Wer auf die Halbinselkette will, muss durch das Städtchen Barth hindurch, das sich seltsamerweise "Vinetastadt Barth" nennt - nach der versunkenen Bernsteinmetropole Vineta, einer archäologischen Chimäre, für die es kaum einen Beweis gibt, schon gar nicht in Barth. In Barth gab es mal ein Konzentrationslager und gibt es heute noch Kriegsgräber zu besichtigen, aber "KZ- und Kriegsgräberstadt Barth" würde sich auf den Broschüren für den Fremdenverkehr gar nicht gut machen.
Also nichts wie durch, über die Brücke rüber auf den "Bollerwagen- und Windjackenhalbinselkettenbestandteil Darß" und eingecheckt auf einem postsozialistischen Campingplatzkolletiv beim Örtchen Prerow. Gleich hinter Prerow könnte meinetwegen der Grenzübergang nach Schweden liegen. Aber nein, da liegt hinter stechmückenverseuchten Dünen der bescheuerte Bodden, erstreckt sich die Bucht des Bösen, lauert: die Ostsee in all ihrer ozeanischen Ödnis. Müde, schlapp und aschfahl plätschert sie hier gegen einen lethargischen Küstenabschnitt, der aus tourismustaktischen Gründen als einer der "schönsten Strände Europas" verkauft wird. Wers glaubt, der stellt sein Zelt in den Dünen auf und geht ein wenig am Wasser spazieren - und achte darauf, nicht mit bloßen Füßen in die Hundehaufen am "Hundestrand" oder die Quallen zu treten, die hier in der Sonne trocknen. Erstaunlich sind hier nur die Sandskulpturen, Ausgeburten tödlicher Langeweile: nackte Frauen, Fische, nackte Frauen, Burgen, nackte Frauen, Automobile, nackte Frauen, und dort, umlagert von einer Traube mitfühlender Gaffer, ein kurzatmiger, völlig verschüchterter Seehund mit weißen, blinden Augen: "Die liegt da schon seit gestern Nachmittag", sagt jemand und macht noch ein Bild mit der Digitalkamera: "Geh mal nüscht so nah ran an das Vieh, Mandy, die hat vielleicht die Staupe!"
Weil sich die sterbende Robbe nach Norden gewälzt hat, wo sie die See wittert, müssen die Touristen knietief ins Wasser, um sie von vorne zu fotografieren. Später am Abend wird das Blitzlicht aus der Ferne aussehen wie Wetterleuchten. Auf dem Campingplatz ist dann bis Mitternacht unüberhörbar Karaoke angesagt. Ich liege noch lange im Schlafsack wach, eine "Sandra, hey, aus Stralsund" singt "Killing Me Softly", gar nicht mal so schlecht, und am nächsten Morgen ist die Robbe tot. Immerhin.
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