Serios Games: Nahostkonflikt zocken
Das Computerspiel "Global Conflicts: Palestine" widmet sich dem israelisch-palästinensischen Konflikt. Ohne Actionfeuerwerk und unparteiisch. Lehrer setzen das Programm sogar im Unterricht ein.
Das Genre der Serious Games gibt es schon seit Jahren. Die ernsthaften Spiele mit realem Hintergrund waren bislang aber nur in den USA populär und füllen hier eher eine kleine Nische. Ursprünglich wurden sie als Übungsszenarien für das Militär eingesetzt. Jetzt sollen sie auch den Teilnehmern von Fortbildungskursen spielerisch Wissen vermitteln. Inzwischen üben auch schon deutsche Mitarbeiter mit spezieller Simulationssoftware, wie sie mit Hilfe von Maschinen Brücken bauen, Geschäftsprozesse abwickeln, Lokomotiven steuern und chirurgische Eingriffe durchführen. Für den Privatanwender zu Hause sind solche Programme aber selten. Zwar gibt es einige Spiele mit ernsthaften Szenarien, die sind aber oft mit viel Action verfremdet und in ein Spiel verpackt worden. Ausnahmen bilden einige Wirtschaftssimulationen und Rettungsspiele, in denen Ärzte und Feuerwehr im Katastrophenfall koordiniert werden müssen. Seit kurzem interessieren sich immer mehr Unternehmen und auch das Fraunhofer-Institut für die spielerische Wissensvermittlung.
Ein Mann kniet in Handschellen auf dem Boden. Schwer bewaffnete Männer starren ihn grimmig an. Die israelischen Militärs behaupten, der Gefangene sei ein Terrorist. Sie haben durch einen anonymen Tipp Waffen bei ihm gefunden. Er selbst sagt, er sei unschuldig. Von den Waffen wisse er nichts. Wer hat recht? Und wie sollen wir uns im Gespräch mit beiden Parteien verhalten, um Auskünfte zu bekommen? Schließlich hört die andere Seite mit. Und am Abend muss der Bericht für die Zeitung Global News fertig werden. Der sollte möglichst informative Zitate enthalten, damit die Leser nicht vor Langeweile einschlafen.
Vor solchen Gewissensfragen stehen Nutzer der Computersoftware "Global Conflicts: Palestine" andauernd. Kaum haben sie eine Entscheidung getroffen, steht auch schon die nächste an. Als Reporter muss der Spieler Artikel über aktuelle Geschehnisse aus dem Krisengebiet schreiben. Er wird Zeuge von Razzien, Überfällen und Anschlägen, trifft mutmaßliche Täter, Augenzeugen und Opfer.
Was zunächst nach einem Actiongame mit brisanter Geschichte und strahlendem Helden klingt, entpuppt sich als eine ruhige Bildungsreise. Effektheischerei gibt es hier genauso wenig wie vorgegebene Meinungen und Gewaltverherrlichung. Die Software ist ein Versuch, Spiele und Wissensvermittlung zusammenzubringen.
Diplompsychologe Simon Egenfeldt-Nielsen hat bereits an mehreren Lernspielen mitgearbeitet und interessiert sich seit Jahren für sogenannte Serious Games. Die Spiele mit realem Hintergrund sollen Wissen auf eine spannende Art vermitteln und werden in den USA oft bei Fortbildungen eingesetzt. In Europa waren diese ernsthaften Spiele bislang kaum bekannt. Also hat Egenfeldt-Nielsen in Kopenhagen die Firma Sertious Games Interactive gegründet, um diese Art von Software auch zu uns zu bringen. "Global Conflicts: Palestine" ist der Auftakt zu einer ganzen Reihe von Bildungsprogrammen für den Computer.
Hier geht es im Gegensatz zu vielen anderen Games gemächlich zu. Die Farben sind gedeckt, der Spieler kann sich in aller Ruhe umsehen. Das muss er auch, um sich eine Meinung zu den Themen seiner Artikel zu bilden. Den Großteil des Spielverlaufs beschäftigt er sich mit Gesprächen. Da die nicht vertont wurden, gibt es reichlich Lesestoff. Wie bei Fußball- oder Rennspielen schnell das Programm einschalten, ein bisschen hin und her klicken und abschalten - dazu hat der Spieler hier keine Chance. Er wird ständig gefordert und muss die Puzzleteile aus Fakten von Informanten, Hintergrundinformationen und Meinungen sorgfältig gegeneinander abwägen, auswerten und zusammenfügen.
Denn im virtuellen Jerusalem hat jeder Bürger seine eigene Meinung zu den aktuellen Geschehnissen. Und jeder kommt zu Wort: ob Soldat, Sympathisant von Attentätern, Professor oder Mitglied von Menschenrechtsorganisationen. Vergraulen sollte der Hobbyreporter niemanden von ihnen. Sonst bekommt er die Zitate für seine Artikel nicht, die er am Ende jeder Mission zusammenstellen muss. Dazu fügt er die gesammelten Aussagen in ein vorgefertigtes Layout und bestimmt, welcher Beteiligte wie präsent zu Wort kommt. Die Gesamtaussage des Artikels sollte je nach politischer Ausrichtung der Zeitung etwas variieren. Allerdings nicht zu stark. Denn wer zu kritisch einer Seite gegenüber berichtet, bekommt von ihr künftig kaum noch brauchbare Auskünfte.
Aber auch in den Gesprächen selbst lauern überall Fettnäpfchen, in die der Berichterstatter treten kann. Immer höflich bleiben heißt es, wenn mehrere Antwortmöglichkeiten zur Auswahl stehen. Sonst sackt die Gesprächsbereitschaft genauso ab wie der Sympathiebalken am Bildschirmrand.
"Wir wollen zeigen, dass es immer mindestens zwei Seiten einer Geschichte gibt und dass jeder Konflikt aus einer Vielzahl von komplexen Beziehungen besteht", sagt Spielentwickler Egenfeldt-Nielsen. "Uns ist es wichtig, den Spielern zu verdeutlichen, dass der Konflikt komplex ist und die involvierten Menschen so reagieren, wie sie es für richtig halten." Helden sucht der Nutzer im virtuellen Krisengebiet vergeblich. Genauso wie Gut und Böse. Jeder entscheidet selbst, ob er mit jemandem sympathisiert oder welchen Standpunkt er verständlicher findet als andere. Manchmal muss der Spieler auch seine Sichtweise ändern, um einen Informanten zu verstehen und ihn zur Kooperation zu überreden.
So viel Ermunterung zum Nachdenken kommt vor allem bei Lehrern an. In Dänemark ist das Spiel bereits erschienen, und mehrere Schulen setzen es im Unterricht ein. Im Fach Politik bildet es an einigen Gymnasien den Abschluss einer Unterrichtseinheit zum Thema Israel/Palästina. Die Jugendlichen sollen sich in die verschiedenen Charaktere hineinversetzen und lernen, beide Seiten zu verstehen.
Politik- und Religionslehrer Kjeld Mazanti Soerensen vom Ordrup Gymnasium in Charlottenlund ist von den Auswirkungen dieser neuen Lehrmethode begeistert. Sobald das Spiel gestartet ist, sitzen die Schüler hochkonzentriert vor den Computern. Er freut sich, dass die Software die 16- bis 19-Jährigen motiviert und die teilweise enthusiastisch reagieren. "Es ist nicht so langweilig, wie einem Lehrer zuzuhören", sagt einer der Schüler. Und das Gelernte prägt sich besser ein als beim Wälzen von Büchern. Wahrscheinlich, weil die Kinder emotional involviert sind. Eine Umfrage nach einer Unterrichtseinheit mit "Global Conflicts" hat ergeben, dass 89 Prozent der Schüler gerne noch mal einen ähnlichen Kurs belegen würden.
58 Prozent der Befragten waren der Meinung, mehr gelernt zu haben als im herkömmlichen Unterricht. Hersteller Serious Games Interactive spricht derzeit auch in Deutschland mit interessierten Lehrern, die das Spiel im Unterricht einsetzen wollen.
Die ungewöhnliche Software lässt sich schwer einordnen. Ist sie nun ein Spiel oder ein Lernprogramm? "Ein bisschen von beidem", sagt Egenfeldt-Nielsen. Während des Entstehungsprozesses hat er oft an das Strategiespiel "Civilization" und die Städtebausimulation "SimCity" gedacht. Er mag diese Games, weil der Spieler etwas über die Zusammenhänge von Wirtschaftskreisläufen und gesellschaftlichen Strukturen lernen muss, um erfolgreich zu sein. Also hat er mit Hilfe von Experten wie Journalisten und Mitgliedern verschiedener Organisationen selbst ein Spiel gemacht, das den Horizont erweitert. "Die Menschen haben ein tiefes Bedürfnis danach, neue Dinge zu lernen", sagt Egenfeldt-Nielsen. Nur die üblichen Lernmethoden seien nicht für jeden attraktiv.
Deshalb will er mit der Software nicht nur langjährige Computerspieler ansprechen. Im Gegenteil: Den meisten von ihnen ist das Programm wahrscheinlich zu unspektakulär. Der Spieleentwickler sieht seine Zielgruppe in PC-Besitzern, die normalerweise keine Computerspiele spielen und sich mehr für politische Debatten und Dokumentarfilme interessieren. Die können dann nach dem Spielen im offiziellen Forum über den Konflikt diskutieren.
Für das Jahr 2008 ist auch schon das nächste Projekt geplant, das das Konzept fortführt: In "Global Conflict: Latin America" geht es dann um Sklaverei, Drogen, Demokratie und Menschenrechte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vermeintliches Pogrom nach Fußballspiel
Mediale Zerrbilder in Amsterdam
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Kritik am Deutschen Ethikrat
Bisschen viel Gott
Berichte über vorbereitetes Ampel-Aus
SPD wirft FDP „politischen Betrug“ vor
Scholz telefoniert mit Putin
Scholz gibt den „Friedenskanzler“
Toxische Bro-Kultur
Stoppt die Muskulinisten!