Larissa Boehning: Erzählbarkeit eigener Geschichte

Wie man ganz verschiedene Leben zusammennäht: In Larissa Boehnings Familienroman "Lichte Stoffe" geht es darum, Lebensangst im Zaum zu halten.

Erzähltalent habe sie ja, aber zu wenig zu sagen. Das hörte Larissa Boehning von der Kritik oft, als 2003 ihre Erzählungen als Debüt erschienen. Jetzt liegt ihr erster Roman vor, der sich immerhin auf der Longlist des Deutschen Buchpreises platzieren konnte. Tatsächlich geht die 1971 geborene Autorin in "Lichte Stoffe" über die Schilderung der Befindlichkeiten ihrer Generation hinaus. Sie hat einen eigenwilligen Familienroman geschrieben.

Nele, Anfang dreißig, bringt Bewegung in eine zum Stillstand gekommene Familiengeschichte, deren Kern sich als Lüge offenbart: Die Großmutter wurde 1946 vom Vater ihrer Tochter in der Trümmerwüste Berlins zurückgelassen. Ein Afroamerikaner, Soldat. Unmögliche Umstände - und dann hat er sie und das Neugeborene, Neles Mutter Evi, im Stich gelassen. Hier pulst die Wunde der Familie, von der besonders Evi betroffen ist, die sich immer doppelt verlassen fühlte: vom nie gekannten Vater und von der Mutter, die das Kind abwehrte. Tonbänder aus dem Nachlass der Großmutter offenbaren nun, dass diese den verliebten Mann wegschickte. Weil sie überfordert war, weil sie Angst hatte. Nele macht sich auf die Suche nach ihrem Großvater.

"Zwei Seiten und dazwischen nur eine lose Naht. Ein Stich hier, einer dort, vorsichtiges Zusammenziehen, bestenfalls. Nie werden die Stoffe eins, nur nah beieinander liegen sie, Fremdes, das sich durch Nähte näherkommt." Die Metapher speist sich aus dem Beruf der Großmutter, die Hutmacherin war. Larissa Boehning benutzt sie gerne und oft. An dieser Stelle beschreibt sie das Verhältnis von erzählbarer Geschichte und Leben - nie kommt beides zur Deckung. Dennoch ist es für ihre Figuren wichtig, eine erzählbare, eine erinnerbare Geschichte zu haben. Das Beharren auf der Geschichte und das gleichzeitige Hinterfragen ihrer Möglichkeit treibt den Roman voran. Letztlich geht es darum, Lebensangst im Zaum zu halten. Und daran schließt sich die Frage, ob eine bewusste Lüge erlaubt ist, wenn sie denn diesen Zweck erfüllt.

Vor dieser Entscheidung steht Nele, die nicht weiß, wie sie ihrer Mutter Evi von der Begegnung mit dem Großvater erzählen soll, den sie schließlich ausfindig machen konnte. Denn für Evi läge die innere Befreiung in der Gewissheit, dass sie und ihre Mutter ihrem Vater etwas bedeutet haben. Aber dieses gute Ende der Geschichte gibt es nicht.

Doch die Bedeutung der eigenen Geschichte, der Lüge darin, betrifft alle Figuren Boehnings. Und jeder Figur eröffnet die Autorin einen eigenen Raum. Dabei entstehen kleine, in sich abgeschlossene, dichte Erzählungen, die aus dem Roman herauszufallen scheinen, tatsächlich aber dessen Themen kristallisieren.

Wenn Neles Vater seinen ehemaligen Arbeitsplatz, eine Brotfabrik, noch einmal aufsucht, geht es darum, wie seine Geschichte jetzt weiterzuerzählen ist. Wie er es schafft, die Lüge gegenüber seiner Frau aufzulösen, denn dass er seine Stelle verloren hat, weiß diese noch nicht. Seine Verlorenheit inmitten der kalten Perfektheit der Maschinen, die er selbst konstruierte, vermag die Autorin in eindrückliche Bilder zu fassen. Er ist allein an diesem Ort, Sinnbild totaler Kontrollierbarkeit, vorgeblicher Sicherheit - die sich aus seinem Leben gerade verabschiedet hat.

Auch die Menschen, ihre Beziehungen zueinander, sind wie Stoffe, die zwar durch Nähte verbunden sind, doch nicht eins werden: Sie halten Abstand, bleiben sich fremd. Auch in der Familie. Und so gestaltet Boehning auch ihren Familienroman: Er wirkt wie aus einzelnen Episoden zusammengesetzt, "genäht", und holt so in der Form ein, was er inhaltlich in vielen Varianten durchspielt. Der Auslöser von allem, die "Legende" um den verschwundenen Großvater, ist auch nicht das Zentrum. Sie ist erzählerische Klammer, die die Familienmitglieder verbindet.

Wie Form und Inhalt sich hier verbinden, ist eigen und überzeugend. Larissa Boehnings Stärke besteht außerdem darin, den einzelnen Figuren sehr nahezukommen, solange es um deren Handlungen geht; dann gelingen ihre dichte, starke Bilder. Wenn sie aber Nele ganze Seiten lang denken lässt, werden die Bilder hölzern und mit Bedeutung überladen. Die Schwäche des Romans liegt darin, zu viel sagen zu wollen.

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