Nach Münteferings Rücktritt: Schaden-Nutzen-Rechnung
Bei der Union wird nun analysiert, was ihr Münteferings Rücktritt nützt. Dass Beck nicht ins Kabinett will, gilt als "Kneifen".
BERLIN taz Die Nachricht bricht am Dienstagvormittag völlig überraschend über den Berliner Politikbetrieb herein: Franz Müntefering tritt zurück. Der Vizekanzler und Arbeitsminister lässt erklären, er gehe "aus persönlichen Gründen" - seine Frau leidet an Krebs. Die große Koalition verliert damit ihren wichtigsten Mann auf der SPD-Seite.
Auch wenn Müntefering wegen seiner Frau geht - die Entscheidung fiel am Morgen nach einem Koalitionsausschuss, der für den Vizekanzler unerfreulich ausging. Münteferings Herzensprojekt, der Mindestlohn, wurde auch in seiner abgespeckten Version für die Postbranche von der Union abgeschmettert. Müntefering äußerte danach "ziemliche Enttäuschung" über CDU und CSU, auch über die Kanzlerin.
Müntefering kämpfte zuletzt in Berlin einen Zweifrontenkrieg: Von links musste er sich gegen Parteichef Kurt Beck und eine SPD-Basis verteidigen, die gegen den Willen des Arbeitsministers tiefgreifende Änderungen der Agenda 2010 forderte. Von rechts schoss ihm regelmäßig der Koalitionspartner vor den Bug, vor allem beim Mindestlohn.
Die SPD-Führung, die angeblich schon am Montag von Rücktrittsplänen informiert wurde, reagierte schnell: Den Posten des Vizekanzlers wird Außenminister Frank-Walter Steinmeier übernehmen. Neuer Arbeitsminister wird der Parlamentarische Geschäftsführer Olaf Scholz .
Politiker von SPD, Union und Grünen bedauerten den Rücktritt. "Müntefering blieb auch bei populistischen Forderungen wie der Verlängerung des Arbeitslosengelds I für Ältere standhaft", sagte Grünen-Fraktionschef Fritz Kuhn. Er war ein "Eckpfeiler der Koalition", erklärte CDU-Vize Roland Koch. Die Linke dagegen lästerte: "Müntefering war der Einzige in der SPD, der von der Agenda 2010 überzeugt war", sagte Ulrich Maurer. Seine Partei forderte Neuwahlen.
Die stehen allerdings nicht zur Debatte. Spekulationen, Kanzlerin Merkel lasse es auf Neuwahlen ankommen, um mit der FDP weiterzuregieren, wiesen Unionspolitiker zurück. "Wir haben einen klaren Wählerauftrag", sagte Verteidigungsminister Franz Josef Jung.
Sicher hat die Nachricht vom Abgang des Vizekanzlers bei der Union sofort parteitaktische Schaden-Nutzen-Rechnungen ausgelöst. Aber die so denken, dürfen es sich nicht anmerken lassen. Weil Müntefering "aus familiären Gründen" zurücktrat, ist Schadenfreude verboten. Für die Führungsleute der Union bedeutet das: Sie müssen ihre Rhetorik blitzschnell ändern. Statt des Triumphgetöses nach der Koalitionsrunde ist jetzt erst einmal Mitgefühl angesagt.
CSU-Landesgruppenchef Peter Ramsauer erfährt von Münteferings Rücktritt während seines Weißwurstfrühstücks mit Journalisten. Gerade hatte er noch die "schöne Nacht" im Kanzleramt gelobt. Da kommt um 10.45 Uhr die Eilmeldung vom Rücktritt. "So etwas hat sich in keiner Weise angedeutet", erklärt der CSU-Statthalter in Berlin, der "direkt gegenüber Müntefering" gesessen hatte. Ob Merkel Müntefering mit den Entscheidungen für Arbeitslosengeld und gegen Mindestlohn nicht geradezu zum Rücktritt getrieben habe, will ein Journalist sofort wissen. "Das kann nicht der ausschlaggebende Grund gewesen sein", verteidigt Ramsauer seine Chefin.
Wie soll es aus Sicht der Union nun weitergehen? CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla sagt, er sei sicher, dass der Rücktritt "keine Auswirkungen" auf die Koalition haben wird. Merkel hat zumindest eine Voraussetzung für die weitere Zusammenarbeit mit SPD-Chef Kurt Beck geschaffen - mit ihrem Ja zum längeren Arbeitslosengeld: Das war Beck besonders wichtig.
Dennoch beginnt bereits das Sticheln gegen Beck. Es sei ein "krasses Kneifen", dass er nicht ins Kabinett gehe, sagte ein CDU-Abgeordneter. Der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) wertet den Verzicht des SPD-Vorsitzenden Kurt Beck auf ein Amt im Bundeskabinett als "Zeichen der Schwäche". Kurt Beck verteidigt dagegen seine Entscheidung: Ein Einstieg ins Kabinett sei "ein Fehler", Olaf Scholz werde sicher ein "sehr guter Arbeits- und Sozialminister".
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen