Kommentar IG Metall und Mindestlöhne: Die zweitbeste Lösung

Mindestlöhne führen Gewerkschaften die eigene Schwäche vor Augen. Die Skepsis der IG Metall ist daher kein Wunder. Sie allein wäre allerdings stark genug, ohne den Mindestlohn auszukommen.

Ein Gewerkschafter fürchtet einen gesetzlichen Mindestlohn? Ein Arbeitnehmervertreter kritisiert das Instrument, das Dumpinglöhne am zuverlässigsten verhindert? Natürlich. Und auch wenn es auf Anhieb so klingt - hier ist kein IG-Metall-Chef plötzlich ins Arbeitgeberlager gewechselt.

Wenn Oliver Burkhard, der Vorsitzende des mitgliederstarken Landesbezirks Nordrhein-Westfalen, seinen Job ernst nimmt, muss er einen gesetzlichen Mindestlohn als "allenfalls zweitbeste Lösung" bezeichnen. Mehr noch, er muss ihn im Grunde seines Herzens hassen. Schließlich führen Mindestlöhne den Gewerkschaftern vor allem eines vor Augen: ihre Schwäche. Bei den Wachschützern in Ostdeutschland etwa erreichten sie nur einen Tariflohn von 4,40 Euro Brutto. Nicht viel besser sieht es in der fleischverarbeitenden Industrie aus, in der kaum noch Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert sind.

Wenn also die FDP frohlockt, die Gewerkschaften wehrten sich endlich gegen "ihre Entmündigung", interpretiert sie die Äußerungen des IG Metallers bewusst falsch: Die Gewerkschaften wissen nach einem jahrelangen, schmerzhaften Erkenntnisprozess um ihre Probleme. Und sie stehen geschlossen hinter der Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn, auch weil sie wissen, dass den Auswüchsen der modernen Arbeitswelt mit klassischer Tarifpolitik nicht mehr beizukommen ist.

Es ist kein Zufall, dass die IG Metall trotz dieser Übereinkunft markig die Tarifautonomie lobt. Die Organisation genießt Respekt im Arbeitnehmerlager. Sie hat den grassierenden Mitgliederschwund in den Griff bekommen und gilt als eine der schlagkräftigsten Gewerkschaften in Deutschland. IG Metaller brauchen in den allermeisten Branchen keine Mindestlöhne, weil sie den Firmenchefs selbst gute Löhne abringen können. Es ist also nur konsequent, dass Burkhard auf die Macht der Arbeitnehmervertreter pocht - und auch als selbstbewusstes Signal an andere Gewerkschaften zu verstehen. Die IG Metall stützt das gemeinsame Projekt Mindestlohn, wäre aber stark genug, ohne es auszukommen.

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Ulrich Schulte, Jahrgang 1974, schrieb für die taz bis 2021 über Bundespolitik und Parteien. Er beschäftigte sich vor allem mit der SPD und den Grünen. Schulte arbeitete seit 2003 für die taz. Bevor er 2011 ins Parlamentsbüro wechselte, war er drei Jahre lang Chef des Inlands-Ressorts.

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